"Es gibt uns, und es gibt die Gesellschaft." Wer ist eigentlich die deutsche Elite? Soziologe Michael Hartmann über Topmanager, den Fall Zumwinkel und die Leistungslegende.
Herr Hartmann, seit die Steuerfahndung Postchef Klaus Zumwinkel und andere Spitzenverdiener ins Visier genommen hat, wird viel über die Elite diskutiert. Der Begriff hat eine lange Karriere hinter sich.
Er war nach 1945 diskreditiert, weil die deutschen Eliten in die Nazi-Verbrechen verstrickt waren. Aber nach 1989 erlebte er eine Renaissance. Zum einen, weil die Eliten des Dritten Reichs tot waren. Zum anderen, weil Deutschland international wieder eine größere Rolle spielen sollte. Und dazu, so die Vorstellung, gehören Eliten. Dann ging Ende der neunziger Jahre die Diskussion um Eliteuniversitäten los.
Aber Eliten gibt es nicht erst seit den neunziger Jahren.
Aber sie werden seitdem in der Öffentlichkeit wieder positiv dargestellt. Vorher standen sie stärker unter Druck und meldeten Ansprüche nicht so offensiv an. Die Kinder der Elite haben heute keine Probleme damit, in Nobelbars mehrere hundert Euro für eine Flasche Champagner auf den Tisch zu legen. Luxus wird wieder zur Schau gestellt.
Wie viele Personen gehören in Deutschland zur Elite?
Es sind etwa 4000, zumeist Männer.
Wie definieren Sie Elite?
Wenn man die gesellschaftliche Entwicklung qua Position oder qua Geld maßgeblich beeinflussen kann. Die Möglichkeit besitzen Großunternehmer, Spitzenmanager, Spitzenpolitiker und die Spitzen in Justiz und Verwaltung. Mit ihren Entscheidungen greifen sie konkret ins Leben der Bevölkerung ein.
Hat diese Machtfülle Einfluss auf die Mentalität der Eliten?
Man hält sich für besonders, vor allem unter den Wirtschaftseliten. Es fängt bei den Kindern an, die feststellen, dass ihr Vater anders ist als andere Väter. Die Jugendlichen lernen, mit Macht umzugehen und merken, dass die allgemeinen Regeln für die eigene Familie nur eingeschränkt gelten. Man empfängt keine Anweisungen, man weist an. Eine Haltung prägt sich aus: Es gibt uns, und es gibt die Gesellschaft.
Ist der Fall Zumwinkel ein Symptom dafür?
Die Wirtschaftseliten sagen, dass wir uns in einem weltweiten Konkurrenzkampf befinden, in dem der Staat nur wenig Bedeutung hat. Trotzdem soll das eigene Land exzellente Bedingungen liefern: also niedrige Steuern bei guter Infrastruktur. Der Staat soll alles für die Unternehmen tun, die Unternehmen aber nichts für ihn. Dieses Bewusstsein überträgt sich auf die Persönlichkeit der Manager. Man zieht sich raus, weil die eigene Lebenswirklichkeit mit der Masse nichts mehr zu tun hat. Ob das der Privatjet ist oder die Klinik, die man sich weltweit aussuchen kann: Man gestaltet sein Leben, wie man will. Der Staat wird nur als lästig empfunden.
Stellt diese Verachtung für die Gesellschaft eine Gefahr für die Demokratie dar?
Die Elite könnte eines Tages sagen, dass sie demokratische Entscheidungen nicht mehr akzeptiert, weil die Bevölkerung keine Ahnung habe, was in der Welt los sei. Sie sagt ja heute schon: Die Kuschelgesellschaft ist vorbei. Aber die Leute, die diese Dinge verkünden, beziehen sie nicht auf sich selbst. Sie verschaffen sich astronomische Abfindungen, Übergangszahlungen und Renten. Sie predigen das Ende der sozialen Hängematte und lassen sich Hunderte Hängematten knüpfen.
Aber Spitzenmanager leisten mehr, zahlen mehr Steuern und könnten abwandern.
Dieses Legitimationsmuster hält keiner empirischen Überprüfung stand. Deutsche Topmanager können nicht einfach ins Ausland gehen. Es gibt keinen internationalen Markt für Spitzenkräfte. Nur neun von 100 deutschen Spitzenmanagern sind Ausländer, vor allem Österreicher und Schweizer. In Frankreich und Japan ist es jeweils einer. In den USA sind es fünf. Dennoch wird das Argument gebetsmühlenartig wiederholt.
Die Elite trägt aber die größte Steuerlast.
Zehn Prozent der Deutschen zahlen 50 Prozent der Steuern, aber sie verdienen auch rund 40 Prozent der Einkommen. Entscheidend ist der Unterschied zwischen den versteuerten Vermögenserträgen und den tatsächlichen Vermögenserträgen. Da wird einem ganz schwindlig. Die reichsten zehn Prozent haben Einnahmen von rund 100 Milliarden Euro, versteuern aber nur Erträge von 20 Milliarden. Die Steuerprüfung operiert da nur auf bescheidenem Niveau. Ihr ist ja nicht mal aufgefallen, dass Klaus Zumwinkel mit seinen Angaben zeitweise unter dem Sparerfreibetrag lag.
Zumwinkel bekam drei Millionen Euro im Jahr. Hatte er Steuerhinterziehung nötig?
So denken Sie! Aber einer wie Zumwinkel vergleicht sich mit Ackermann, der zwölf Millionen kriegt. Und Ackermann vergleicht sich mit seinen Investmentbankern, die 20 bis 30 Millionen machen. Und die schauen auf die Hedgefondsmanager, die es auf eine Milliarde bringen.
Was machen die Eliten mit dem Geld?
Es geht darum, mitzuhalten. Sich eine Jacht zu kaufen oder ein zweites oder drittes Haus. Seit etwa 30 Jahren homogenisieren sich die Wohnviertel in Deutschland. Die Elite wohnt im Hochtaunus, an der Elbchaussee oder am Starnberger See. Dort sind die Grundstückspreise so stark angestiegen, dass die Reichen weitgehend unter sich bleiben. Diese Entwicklung beobachten wir bundesweit. Je weiter die Vermögensunterschiede auseinanderdriften, umso krasser wird die räumliche Segregation.
Hat auch die um 40 Prozent gestiegene Anzahl der Privatschulen damit zu tun?
Privatschulen richten sich nicht so sehr an die Eliten, sondern an die verunsicherte obere Mittelklasse. Das sind Menschen, die den sozialen Aufstieg in den siebziger Jahren mitgemacht haben und nun bei ihren Kindern den Abstieg fürchten. Also fahren sie die Ellenbogen aus. Die Kinder sollen für den harten Konkurrenzkampf gewappnet sein. Die wirklichen Eliten sind da gelassener, weil sie soviel Geld haben, dass sie nicht in Schwierigkeiten geraten werden.
Was treibt die Elite in ihrer Freizeit?
Sie geht Golfen, Segeln, Skifahren. Es gibt aber nationale Unterschiede: 40 Prozent der Franzosen sagen, ihr wichtigstes Hobby sei, Bücher zu lesen oder zu schreiben. Die Briten gehen wandern oder pflegen den Garten. Die Deutschen fahren zur Oper nach Salzburg oder Bayreuth. Es gibt einen Bildungskanon, den man beherrschen sollte. Man muss kein Callas-Experte sein, aber man sollte wissen, was Callas von Netrebko unterscheidet.
Wie reagieren Eliten, wenn ihr Einfluss und ihr Reichtum beschränkt werden?
Sie wehren sich. Wenn jemand von Kindesbeinen an gewohnt ist, über alles verfügen zu können, wird er dieses Privileg erbittert verteidigen.
Muss die Elite nach dem Fall Zumwinkel denn um ihre Privilegien fürchten?
Wahrscheinlicher ist, dass die oberen Einkommen weiter wachsen und die unteren weiter schrumpfen werden. Schon Ende der neunziger Jahre verdiente das obere Promille der Deutschen soviel, dass nur die reichen Amerikaner noch mehr hatten. Zu dieser Entwicklung hat die Politik der letzten 15 Jahre mit ihren Steuergeschenken entscheidend beigetragen. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in keinem anderem Land Westeuropas so tief aufgerissen wie in Deutschland.
– Das Gespräch führte Philipp Lichterbeck.
Michael Hartmann, 55, ist Deutschlands führender Elitenforscher. Er lehrt an der TU Darmstadt. Zuletzt erschien von ihm die Studie
„Eliten und Macht in Europa“ (Campus).
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 23.02.200