na dann schick ich mal den rest....
Wir kennen nur vertriebene, gefolterte, betrogene, vergewaltigte, verschleppte und kranke Afrikaner. Bei uns waren sie das nicht, weil sie bei uns dazu gehörten und keinem zur Last fielen. Sie haben gern gearbeitet und gesungen und es war eine grosse Bereicherung für uns, dass wir mit leben durften.
Ich kann mich noch gut an meinen letzten Urlaub auf Jamaika erinnern, es war ein Abschiedsurlaub im Frühling 1996. Ich habe mich immer so zu ihnen hingezogen gefühlt, aber sie gaben mir keine Chance. Sie waren dieselben Rassisten wie die Weissen, genauso unversöhnlich und gierig. Sie machten auch Unschuldige zu Schuldige, und genau so wie wir Weissen haben sie sich gegenseitig umgebracht und denunziert. Ich wusste, dass ich in dieses Land nicht mehr zu kommen brauchte, weil ich erkannt hatte, dass ich nur da, wo ich hingehöre, etwas verändern kann, und dort gehörte ich nicht hin.
Ich wusste, wir würden nie Brüder und Schwestern sein, und wenn ich wo nicht gern gesehen bin, dann gehe ich dort nicht mehr hin.
Jetzt, heute, lebe ich seit so langer Zeit mit ihnen zusammen und bin mir bewusst, dass ich mich getäuscht habe. Jetzt weiss ich, dass wir alle eine Familie sein können, schwarz und weiss, gelb und rot. Aber es darf keiner hungern. Keiner darf das Gefühl haben, mehr zu sein als die anderen. Aber auch nicht weniger.
Keiner oben, keiner unten.
Und unser Dorf wurde afrikanisch und wir alle Afrikaner.
Braun und erdfarben.
Seit dreiundzwanzig Jahren ist kein Kind mehr auf die Welt gekommen und ich bin jetzt achtundachtzig und gehe jeden Tag hinüber zum Friedhof und freunde mich mit meinem Baum an. Ich habe ihn mir selber ausgesucht, einen schönen Ahorn, und ich hoffe, dass ich im Herbst sterben darf, wenn er Grün, Gelb und Rot ist. Vor dreiundzwanzig war die letzte Geburt bei uns, und es leben noch zweihundertundachtzehn Menschen im Dorf. Seit sechzehn Jahren war ich nicht mehr draussen und empfinde das nicht als Verlust. Schade, dass ich nicht dabei sein kann, wenn der Letzte von uns, vielleicht in siebzig oder achtzig Jahren geht. Ich erzähle immer noch Geschichten, und mein Sohn, der Lukas, wohnt mit seiner Frau wieder bei uns. In Langnau sind noch dreiundzwanzig Häuser bewohnt und wir wohnen alle ziemlich nah beieinander. Wir haben Langnau zu unserem Afrika gemacht, und ich wollte immer in Afrika sterben. Ich weiss, dass ich mir bis zum Schluss keine Sorgen mehr machen brauch und nicht allein sein werde, wenn es soweit ist. Ich habe viel Glück gehabt in meinem Leben.
Ab und zu kommen noch vereinzelt Leute zu uns herein und erzählen Geschichten. Aber ich bin jetzt unter den Zuhörern und schüttle den Kopf. Weil ich es gar nicht glauben kann. Sie erzählen von schwarzen Ozeanen, die jeden Tag tausende von Leichen an die schlammverkrusteten Strände spülen. Kleine Kinder sind Mörder und bringen ihre Eltern um. Pflanzenfresser werden zu Fleischfresser gemacht und Fleischfresser zu Kannibalen. Mütter fressen ihre neugeborenen Kinder auf oder schmeissen sie, lebendig und in Plastiktüten eingewickelt auf den Müll. Massengräber werden von Planierraupen zu geschüttet und alte Männer machen Kindern Kinder… Die Luft ist schwer zum Atmen, erzählen sie, und an den Bäumen hängen Schuldige.
Sie wollten alles in den Griff bekommen und erhoben sich zu Götter, und so haben sie ihr eigenes Todesurteil gesprochen.
Sie wollten die Welt in den Griff bekommen, und als sie merkten, dass sie das nicht schaffen, brachten sie sie einfach um.
1994
Ich sitze vor einem Richter und soll erklären, woran ich glaube. Wie kann man einen Glauben erklären?
Das haben schon so viele versucht, und es kam nichts dabei heraus, ausser Krieg. Ich kann nicht etwas erklären, was sie sich nicht vorstellen können oder mitbringen oder zeigen. Sie müssten mir meinen Glauben einfach nur glauben, aber das können sie nicht, weil sie ja selber an nichts glauben. Ich sitze vor lauter Ungläubigen und soll mir von denen meinen Glauben erlauben lassen. Sie sagen, dass sie an Gott glauben und Richter sind, wo sie doch eigentlich glauben müssten, dass es nur einen Richter gibt.
Sie sind welche, die bestrafen, aber keine Richter.
Sie sind Menschen wie alle Menschen auf der Welt, mit dem Unterschied, dass sie in der Schule besser waren. Oder weil sie mit ihrem Leben und ihrer Zeit so wenig anfangen konnten, dass sie ganze Bücher voll mit Paragraphen auswendig gelernt haben, von Menschen geschrieben, denen es genau so langweilig war. Ich soll fünf katholischen Richtern meinen Glauben erklären und mir von ihnen erlauben lassen ein Gläubiger zu sein.
Was ist ein Gläubiger? Wie soll ich das erklären?
Einen Richter kann man erklären und einen Metzger, da ist ja natürlich kein grosser Unterschied, Aber Gläubig sein, dass kann man nicht erklären. Ich kam in den Gerichtssaal herein und sie haben doch gesehen, dass ich gläubig bin. Warum haben sie nicht aufgepasst? Warum haben sie mir nicht in die Augen geschaut?
Weil sie nichts damit anfangen konnten, haben sie es als Arroganz und Sturheit abgetan und haben gerichtet. Bei allen Religionen kann man erklären und nachlesen, da kann man eintreten und wieder austreten, das kann man ab einem bestimmten Alter werden. Religion wird vererbt, oder man ist etwas zwangsweise. Aber gerade das ist nicht der Fall bei gläubigen Menschen, auch wenn es so praktiziert wird. So sitze ich da vor fünf irdischen Richtern und ich weiss, dass sie in 5 oder 10 Jahren in Pension gehen, und ich erwarte von ihnen, dass ich Recht bekomme. Im Grunde genommen geht es nicht um meine Religion oder um meinen Glauben, es geht um den Hanf. Es geht darum, dass sie mir nicht erlauben dürfen ganz legal Hanf zu rauchen und anzubauen, obwohl ich ein Gläubiger bin, denn dann könnte ja jeder sagen, dass er ein Gläubiger ist.
Ich frage mich wirklich, ob es nichts Wichtigeres gibt als ein paar Brösel Gras. Ich könnte auch auf den Hanf verzichten und wäre dann immer noch ein gläubiger Mensch. Aber ich bin als der, der ich heute bin, auf die Welt gekommen und deswegen steht es mir zu Hanf zu rauchen, so wie es den Christen und Katholiken zusteht, dass sie gar kein Blut saufen, sondern Wein.
Nein, es hilft nichts, ich muss ihn ihnen erklären, meinen Glauben und fünfundzwanzig Journalisten warten draussen und hoffen, dass es einen Spass gibt.
Und ich habe versagt an diesem Tag und fünfundzwanzig Deppen hatten ihren Spass.
Ich habe bereits mit vierzehn das Gras rauchen angefangen und damals habe ich wirklich Gras geraucht, mehr war das nicht. Aber etwas komisches passierte mit mir. Ich rauchte meinen ersten Joint und wartete auf die Wirkung. Ich wartete und wartete und wartete, und was soll ich sagen, ich habe das Warten gelernt. Ja, ich habe durch das Gras rauchen Warten gelernt. Es pressierte nichts mehr und doch war alles zu seiner Zeit fertig.
Das ist Glauben.
Ich habe plötzlich warten können. Das darf man jetzt nicht verwechseln mit Kiffen. Ein Kiffer wartet auch, aber der macht nichts fertig, der fängt alles nur an. Ich habe plötzlich warten können. Aber manchmal kannst du es einfach nicht mehr abwarten und dann hast du einen Fehlstart und musst zurückgehen, sonst kommst du nicht ans Ziel. Du darfst dann nicht weiter laufen, sonst verschwendest du deine ganze Kraft und hast dann keine mehr für einen zweiten Versuch. Und das da im Gerichtssaal war ein Fehlstart und ich bin zurück in die Startlöcher und nicht weiter gelaufen und habe gewartet. Ich liess mich ein auf ihr Spiel und spielte nach ihren Regeln mit. Ich gab Antworten auf ihre Fragen und erklärte meinem Glauben, aber sie redeten von öffentlichem Interesse und von ihren Gesetzen, und ich habe das Thema verfehlt.
Hinsetzen, das war eine 1.
Ich habe sie um Hilfe angebettelt, aber es war umsonst. Ich hätte erkennen müssen, dass sie Feiglinge sind, die nur ihre Zeit absitzen, wie das ein Pförtner auch tut. Aber einem Pförtner muss ich wenigstens nichts erklären. Ich hätte erkennen müssen, dass sie Angst um ihre berufliche Laufbahn haben und bestechlich und korrupt sind.
Wenn einer Angst hat, dass er in fünfzehn Jahren zweihundert Franken weniger Rente bekommt, muss er korrupt und bestechlich sein. Wie konnte ich glauben, dass in einem Land, das von Feiglingen regiert wird, die Richter, die von diesen Feiglingen bezahlt werden, mutiger sind? Wie kann ich mich nur so täuschen, wie konnte ich nur vergessen, dass Krieg ist auf dieser Welt. Aber ich habe das Warten gelernt und so warte ich auf den nächsten Start und weiss, dass ich gewinne. Ich weiss das deshalb so genau, dass ich gewinne, weil ich einfach mehr Glück habe als sie. Weil ich das Glück habe, dass ich alles das schon bin, was sie sich auch mit 1000 Franken mehr Rente nicht erkaufen können.
Voller Glauben.
Ich weiss, dass ich es ohne sie schaffe, aber sie würde es nicht geben ohne mich. Manchmal stelle ich mir vor, dass in der Schweiz einen Monat lang keine Straftaten begangen werden. Einen Monat lang nicht falsch Parken und nicht zu schnell fahren, keine Verkehrsdelikte und keine Diebstähle, keine Einbrüche und keine Gewalttaten, keine Raubüberfälle, keine Schlägereien und auch keine Misshandlungen, nichts, nichts, nichts, es passiert einfach nichts einen Monat lang. Wahrscheinlich würden sie ein Gesetz raus bringen, dass jeder Schweizer mindesten einmal in der Woche eine Straftat nachweisen muss, sonst kostet das 1000 Franken Busse.
Wie soll ich solchen Leuten meinen Glauben erklären, wo sie doch selbst an nichts glauben. Mich würde interessieren, ob sie in der heutigen Zeit noch einmal einer Frau glauben würden, dass sie ein Kind vom heiligen Geist empfangen hat. Vielleicht sind tausende solcher Kinder in Irrenanstalten auf die Welt gekommen, die alle seine Kinder waren. Wie soll ich solchen Menschen meinen Glauben erklären. Sie sitzen da und ich weiss genau, dass sie auf meinen Pullover und auf meine Schuhe schauen und nicht in meine Augen. Sie sehen meine langen Haare und den Ohrring und ich kenne bereits ihr Urteil. Ich bin mir sicher, sie hätten anders geurteilt, wenn sie den Mut gehabt hätten, sich die Augen zu verbinden und nur zu hören was ich sage. Ich bin sicher, sie hätten anders geurteilt, wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, bei mir vorbei zu schauen, um zu sehen, wie ich lebe. Ich bin sicher, sie hätten anders geurteilt, wenn sie einmal mit uns zu Abend gegessen hätten. Ich bin sicher, sie hätten anders geurteilt, wenn sie meine Ausdrucksweise als meine Sprache anerkannt hätten.
Aber überall war Krieg, und in einem Krieg schaut man nicht wie einer lebt, isst oder spricht, nein, da hat man geschaut, was einer an hatte und dann geschossen, oder nicht. Und sie haben auf mich geschossen. Aber mir ist nichts passiert. Der Hanf ist trotzdem weiter gewachsen und ich warte.
Es war schon lustig, wie sie mich fragten, ob es in meinem Glauben auch ein Paradies gäbe. Ich verstand die Wichtigkeit dieser Frage nicht und dachte, sie machen einen Scherz. Was sollst du jetzt darauf sagen?
Ja klar, sage ich, aber ich kann es eben nicht beweisen, weil ich niemanden kenne, der schon mal dort gewesen ist. Wie denn mein Paradies aussieht, wollten sie wissen. Das ist eine grosse Gärtnerei, sage ich, und da bauen sie nur Hanf an, und wenn wir sterben, dann werden wir alle Gärtner und bauen Hanf an.
Immer?
Ja, immer ich.
Ja, das gefiel ihnen den fünfundzwanzig Deppen da draussen und sie kamen auf ihre Kosten. Und ich habe ihr Spiel mitgespielt. Nein, an dem Tag hatte ich einen Fehlstart und konnte nicht erklären, dass Glauben einfach Respekt ist. Respekt vor Gott und den Verträgen, die man mit ihm macht. Gläubig sein, dass bedeutet nichts nehmen, was dir nicht zusteht, und aufeinander aufpassen. Glauben, dass ist 30 Jahre zurück kriechen und nichts vergessen. Gläubig zu sein bedeutet immer an einen Frieden glauben und Ziele haben.
Wer keine Ziele hat glaubt auch an nichts.
Glauben bedeutet sauber sein an dem Tag, und weil keiner der glaubt den Tag kennt, ist er immer sauber.
Glauben ist das Wissen um deine Herkunft. Glaube war das erste auf dieser Welt und wird das Letzte sein, dass in einer gemeinsamen Sprache gesprochen wird. Glaube braucht keinen Namen, denn ein Name wertet nur und wird bewertet.
Ja, und immer ich.
Wir feiern jedes Jahr nur ein wirklich grosses Fest und wir laden dann jeweils auch unsere Nachbarn von draussen ein. Wir feiern schon häufig und gern, aber dieses Fest ist das Grösste und für uns auch das wichtigste. Wir würden jedes andere fest verschieben oder aufgeben, wenn es sein müsste, aber nicht auf dieses.
Wir feiern Weihnachten zum Beispiel auch nicht am 24ten Dezember, sondern am 11.Oktober, weil an dem Tag die Geburt unseres letzten Kindes war, und wir freuten uns alle, dass es diesmal ein Mädchen war.
Ja, dieser Fest ist das wichtigste: Wir feiern unseren „Rückkauf-Langnau Tag“ am 2ten Februar und laden immer alle dazu ein. Alle Haustüren sind offen und wir kochen im Freien. Oft ist es scheisskalt, aber wir tanzen und singen und die schwarzen Sklaven ziehen ihre weissen Eroberer an Eisenketten durch das Dorf und die Blasmusik spielt dazu. Zum Schluss aber tanzen alle miteinander, die Sklaven und die Eroberer, die von draussen und die von drinnen, die alten und die jungen, und keiner friert. An einem dieser 2ten Februare haben wir noch etwas anderes beschlossen und das feiern wir immer in Gedanken mit. Wir haben alle Uhren angehalten, und die Zeit, die auf dem Kirchturm angezeigt wird, ist vier Minuten nach halb neun. Da hat das letzte Polizeiauto an der Langnauer Grenze umgedreht und ist über die Autobahn nach Zofingen gefahren und nicht durch unser Land. Und alle Uhren bei uns im Dorf, viele gibt es eh nicht mehr, zeigen dieselbe Zeit an.
Immer?
Ja, immer ich.
Wir haben uns abgewöhnt, unsere Tage zu zerstückeln und haben sie eingeteilt in Vormittag, Nachmittag, Abend und Nacht. Für uns fing der Tag an, wenn die Sonne aufgeht, und er war vorbei, wenn sie unter geht. Das heisst nicht, dass wir einfach alles nur machten, wenn wir Lust hatten und es nicht machten, wenn es uns nicht gefreut hat, nein, das heisst es nicht.
Du kannst Gras oder Hopfen oder Äpfel nicht dann ernten, wenn du Lust hast. Wir hielten uns an ihre Termine und sie gaben uns Ferien oder liessen uns arbeiten. Die Welt, dieses kleine Stück Land auf dem wir lebten, war unsere Uhr, und der Frühaufsteher hat die Kühe gemolken und der Spätaufsteher die Laternen angezündet. Und jeder hat zu seiner Zeit etwas getan und wir wurden immer termingerecht fertig. Im Urlaub, da warteten wir. Jedes Lebewesen auf dieser Welt hat Termine, seien es die Gnus in Afrika oder die Schafe am Heubeeriberg, alles hat seinen Termin und ich habe nie verstanden, wie man einen Baum fällen kann in Herbst, wo er doch im Frühling einen Termin hat. Da muss er Blätter machen und die Luft sauber halten. Ja, alles hat Termine und wir hielten uns an unsere. Es dauerte Jahre, bis wir uns dieses „Wie Spät wird es denn sein“ abgewöhnten und anfingen zu sagen: „Ich komme wenn der Regen aufhört“ oder „Der Tisch ist im Herbst fertig“. Wir brauchten irgendwann das Zeitgefühl für Stunden und Minuten nicht mehr, es reichte, dass wir sagten, nachher oder gleich. Es hat schon noch Morgen oder Übermorgen gegeben, das hat ja nicht mit dem Anhalten der Uhren aufgehört. Aber wir lebten nicht mehr nach Sunden und Minuten. Wie oft in meinem Leben habe ich mich geärgert, dass ich etwas ausgemacht habe um 3 Uhr und um 3,20Uhr ist es erst passiert… Ich habe Unpünktlichkeit gehasst, wie die Pest. Und ich hasse sie heute noch. Ich hasse es heute noch, wenn mir einer sagt, dass er am Nachmittag kommt und dann in der Nacht immer noch nicht bei mir ist. Nachmittag ist nach Mittag und fängt nach unserer Zeitrechnung auch nach dem Mittag an, und auf die Nacht, da ist es noch nicht ganz dunkel. In der Nacht schlafe ich und auf die Nacht, da bin ich noch wach. Wenn einer zu mir sagt, dass er am Nachmittag kommt, heisst das nicht, dass ich da jetzt sitze und warte bis er kommt, sondern heisst, dass ich weiss, dass er kommt, und wenn ich gerade nicht da bin, wenn er kommt, dann komme ich nachher gleich, und dieses nachher gleich sind keine eineinhalb Tage, sondern es bedeutet, dass er es abwarten kann. Und so habe ich mich bis heute noch mit jedem getroffen, mit dem ich was ausgemacht habe. Mit dem Abstellen der Uhren haben wir wieder angefangen, Ausdrücke und unsere Sprache oder bestimmte Worte zu betonen, wir haben wieder Dialekt gesprochen und uns wieder verstanden. Gleich und Gleich ist nicht gleich, und jetzt gleich und nachher gleich, das darfst du nicht verwechseln, sonst bist du schlecht drauf, und ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal schlecht drauf war. Wir haben unsere Termine eingehalten und keiner war uns mehr böse.
Sie kamen in unser Dorf und wir haben uns auf sie gefreut und mit ihnen gelacht und geschwiegen, sie sassen in unseren Häusern und keiner sagte, jetzt wird es aber dann Zeit, sie spielten mit unseren Kindern und tanzten mit unseren Frauen, sie assen und tranken mit uns und wenn sie froren, dann machten wir ihnen die Türen auf und liessen sie herein. Sie haben gesehen, dass wir auf nichts verzichten mussten und dass wir mehr haben als alles Geld auf dieser Welt wert war. Wir mussten nicht mehr auf die Uhr sehen und dadurch vergassen wir unser Alter. Es gab nur noch drüben und hier, draussen und drinnen. Wir waren endlich drinnen. Wir gingen von der Kälte draussen in die Wärme herein, aber wir verschlossen die Türen nicht hinter uns. Wir waren endlich daheim. Ja, wir waren endlich daheim und unsere Türen mussten wir nicht mehr zu sperren…
Unser leben ist im Universum ein Tag, und an diesem tag gibt es auch ein „In der Früh“ und ein „Auf die Nacht“. Da gibt es einen Vormittag und einen Nachmittag, einen Mittag und eine Nacht, und wenn wir irgendwann nicht mehr dabei sitzen und mit reden, dann ist es Nacht geworden. In der Früh kamen wir auf die Welt und am Nachmittag waren wir schon grauhaarig. An dem Tag, den wir gelebt haben, hat die Sonne gescheint und es hat Wolken gegeben, es war nass und es war kalt an dem Tag, windig und stürmisch, es ist hell gewesen und am Ende finster geworden. Dunkel war es nie an diesem Tag, denn wir haben nie vergessen, dass die Sonne immer scheint, auch wenn wir sie grade nicht sehen.
Immer?
Ja, immer ich.
Morgen kommt die nächste Generation und übermorgen die nach ihr.
Sie werden vergehen und kommen.
Aber die Sonne scheint immer.
Wir schreiben das Jahr 2048 und ich bin jetzt dreiundneunzig Jahre alt und die Jüngste in unserem Dorf ist dreiunddreissig. Ich habe den ganzen Sommer meine Kraft dafür aufgewendet diesen Herbst noch zu erleben. Ich wollte einfach nicht im Sommer sterben. Ich habe es schon im Frühling gespürt und den ganzen Sommer Abschied genommen. Komischerweise bin ich nicht traurig. Ich habe immer gedacht, ich würde schon traurig sein, wenn es soweit ist, aber ich empfand keine Traurigkeit. Mein Termin, mein ganz eigener Termin ist gekommen und ich bin zur rechten zeit fertig geworden. Ich wollte immer im Herbst oder im Winter sterben und gestern hat es auf den Bergen geschneit, für mich, damit ich weiss, dass es Herbst geworden ist. Ich war jeden tag bei meinem Ahorn und freue mich jetzt richtig auf ihn. Ich habe den tag mit Luki und Angi verbracht, und jetzt sitzen wir hier auf unserer Terrasse und warten auf meinen Sonnenuntergang. Ich schau nicht zurück auf mein vergangenes Leben, ich schaue voraus in mein neues. Ich habe in diesem Leben viel mehr Glück gehabt als ich brauchte, für die kurze Zeit, die es gedauert hat, aber vielleicht war mir grade deshalb keiner neidisch. Ich habe mir nie etwas genommen und trotzdem alles bekommen. Ich weiss, dass sie traurig sind, weil ich morgen nicht mehr an ihrem Tisch sitzen werde, ich sehe ihre Tränen herunter laufen, und was könnte schöner sein als das Bewusstsein, dass du geliebt worden bist. Wir sitzen da und warten auf meinen Sonnenuntergang und müssen nichts mehr reden, in keiner Sprache, wir sehen uns nur an und verstehen uns und erkennen die regeln des Universums an.
Es wird kalt werden in den nächsten tagen und vielleicht schneit es sogar, es ist eine gute Zeit zum Sterben. Wir sehen uns in die Augen und sagen uns in Gedanken noch einmal alles, was wir uns im Leben gesagt haben, und wir müssen uns für nichts entschuldigen oder schämen. Ich kann fertig machen, und das Schönste ist, dass ich selbst entscheide, dass es heute ist. Ich würde wahrscheinlich noch ein paar Wochen länger bleiben können, es ist nicht so, dass ich todkrank wäre, nein, ich fühle mich sogar sehr wohl, aber ich weiss, es ist mein Sonnenuntergang heute und ich habe mir vorgenommen nicht mit ihm zu handeln.
Als die Sonne weg war, stand ich auf, als wäre ich auf Drogen, und meine Familie blieb sitzen. Meine Frau und mein Kind, das ganze Dorf. Ich stand auf, als würde ich gleich wieder kommen, mit dem einzigen Unterschied, dass ich mich beim Weggehen nicht noch einmal umdrehte, weil ich wusste, dass ich sie mit diesen Augen nicht mehr sehen werde.
Ich nahm mein Bündel und ging hinüber zu meinem Ahorn – und seine Blätter waren gelb, rot und grün. Ich stieg hinauf zu meinem Bett, dass mir Lukas gebaut hat und kroch in den Schlafsack, den mir Angi genäht hat, und legte mich zum schlafen hin und schlief ein mit dem Gedanken, dass sie immer scheinen wird.
Auch wenn ich sie nicht mehr sehen werde.
Immer?
Ja, ich und ich.
Immer ich.
Seine Adern waren leer und sein Herz verkrampfte sich schmerzhaft, als es nichts mehr durchzupumpen gab. Der letzte Schlag war ein Zucken und dann entspannten sich alle Muskeln. Sein Gehirn lebte noch, als sie seinen toten Körper mit der Kreissäge vom Schwanz bis zum Schädel am Rückgrat entlang durchschnitten, und versuchte sich an den Sonnenuntergang von gestern zu erinnern. An irgendeinen Sonnenuntergang. Aber es waren keine Erinnerungen mehr da, die spritzten sie grade mit dem Schlauch vom Anhänger. Am nächsten tag zogen sie alle ihre schönen Kleider an und gingen in die Kirche und haben gesungen und gebetet, und am Tag drauf war es wieder Sonntag.
Am 19ten Dezember 2108 stand in der Zeitung, dass die letzte Königin dieser Welt gestorben ist.
Sie hat ihr Reich, in dem alles sauber und aufgeräumt war, verlassen und sich auf den Heimweg gemacht. Sie war die einzige, die sich auf dem Weg nach Süden machte und an einem schönen klaren Tag erreichte sie das Meer und schwamm hinaus zu ihren Brüdern und Schwestern.
Aber sie traf keinen von ihnen.
Es gab keinen Wal mehr.
Eines Tages standen wir alle vor ihr und sie war gerührt und die tränen liefen ihr herunter und die tropfen baumelten an ihrem Kinn.
Sie weint, weil sie sich schämte und erkannte, dass wir alle ihre Kinder waren.
So wurden wir durch unser Gehen, was wir durch unser Bleiben nie hätten werden können.
Väter und Mütter.
Söhne und Töchter.
Gott.
Wir waren die ersten.
2208, zum hundertsten Todestag der letzten Königin, wurde die Gemeinde Langnau vom amtierenden Gemeinderat von Reiden zur Gedenkstätte ernannt und für alle Besucher gesperrt. Die Natur sollte sich, was ihr gehörte, wieder zurück holen können...
Und noch schnell ein paar Bemerkungen:
- Nein. Ich habe mir das nicht ausgedacht, sondern verletze wahrscheinlich irgendwelche Urheberrechte. Ich habe es nur umgeschrieben auf mein Leben und unsere Zeit und Dorf und so...
- Ja. Schreiben ist eines ,meiner Hobbys...
- Ich denke in dieser Geschichte gibt es sehr viel zu entdecken.
- Ich habe mal geholfen 12000 Hühner einzupacken, in Kisten, weil sie nicht mehr rentabel waren (die Hühner) und später dann in einem entsprechenden Betrieb vergast und zu chickmcnuggets verarbeitet wurden. Ich hab den fatalen Fehler gemacht einem von diesen unzähligen Hühnern in die Augen zu schauen. Ich möchte mich hiermit für diesen Job, der 3 Stunden gedauert hat und für den ich 70 Franken bekommen habe, entschuldigen.
|