Desinfo vom Spiegel
IPPNW widerspricht SPIEGEL-Artikel
Nach Auffassung der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung) ist der Artikel »Legenden vom bösen Atom« im Magazin »Der Spiegel« vom 19.11.2007 nicht seriös. Der Autor des Beitrages stützt sich unter anderem auf alte und längst widerlegte Zahlen sowie auf Aussagen des Münchner Strahlenbiologen Professor Albrecht Kellerer. Dieser hat als ausgewiesener Befürworter der Atomenergie die gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl schon 1990 und somit zu einem Zeitpunkt pauschal bestritten, als dies wissenschaftlich überhaupt noch nicht abschätzbar war.
Der Spiegel behauptet, die sibirische Atomwaffenschmiede Majak habe weniger Strahlenopfer zur Folge als erwartet. Das Gegenteil dessen ist der Fall: Das EU-Forschungsprojekt »Soul« hat nicht geringere, sondern nach seinem Leiter Dr. Peter Jacob (GSF Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit) etwa 4mal höhere Strahlenschäden in der Umgebung der russischen Atomwaffenschmiede Majak festgestellt als nach dem Risikomodell, das der deutschen Strahlenschutzverordnung zugrunde liegt, zu erwarten wären. Das bedeutet nicht Entwarnung für Majak, sondern anstehendes Nachdenken über erneut zu verschärfende deutsche Strahlengrenzwerte.
Der Spiegel behauptet auf der Grundlage einer Pressemitteilung der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEO) vom September 2005, dass in der Tschernobyl-Region mit höchstens 4.000 zusätzlichen Krebs- und Leukämietoten gerechnet werden müsse. »Diese Zahl ist völlig unsinnig« so der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, Dr. Sebastian Pflugbeil. »Die IAEO hat diese Zahl im April Jahr 2006, 20 Jahre nach Tschernobyl auch nicht aufrechterhalten, nachdem wir öffentlich darauf hingewiesen haben, dass die Atomenergie Organisation ihre eigene Quelle tendenziös und unvollständig wiedergegeben hat.« Denn dem zugrunde liegenden Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO ist tatsächlich eine Zahl von 8.930 Toten zu entnehmen. Studiert man die hierfür angegebene wissenschaftliche Originalquelle, findet man bei Elisabeth Cardis (International Agency for Research on Cancer, Lyon) 9.785 bis 22.160 zusätzliche Krebs- und Leukämietote. »Die IAEO musste die kompromittierende Presseerklärung mit den 4.000 Tschernobyltoten aus dem Internet zurückziehen, ein einmaliger Vorgang«, so Pflugbeil.
Die Wissenschaftlerin Cardis untersuchte nicht nur die Tschernobyl-Region, sondern auch die strahlenbedingten Tschernobyl-Folgen in Westeuropa. So wurde im Jahr 2006 eine internationale Gemeinschaftsstudie im »International Journal of Cancer« veröffentlicht. Darin kommt Cardis zu dem Ergebnis, dass es in Westeuropa nach Tschernobyl 1.000 zusätzliche Schilddrüsenkrebsfälle und 4.000 andere Krebsfälle gab und dass es bis zum Jahre 2065 zusätzlich 3.400 bis 72.000 Schilddrüsenkrebserkrankungen und 11.000 bis 59.000 andere Krebsfälle geben wird.
Nach Tschernobyl hat zudem auch die Säuglingssterblichkeit (Perinatalsterblichkeit) in mehreren europäischen Ländern zugenommen. Das bestätigen ausgerechnet zwei Mitarbeiter des im Spiegel-Artikel zitierten GSF-Forschungszentrums in Neuherberg. Diese fanden im Jahr 1987 eine signifikante Zunahme der Perinatalsterblichkeit in Deutschland. Die vorliegenden Studien ergeben für Europa Tschernobyl-bedingte Todesfälle unter Säuglingen in der Größenordnung von 5000.
Neben den Todesfällen sind auch die strahlen-bedingten genetische Schäden wie Fehlbildungen (unter Bezug auf das UN-Strahlenkomitee UNSCEAR weltweit 42.000 bis 290.000 Opfer) sowie die nicht tödlich verlaufenden schweren Erkrankungen nach Tschernobyl zu berücksichtigen. Der Gesundheitszustand der in Tschernobyl zu Aufräumarbeiten eingesetzten 600.000 bis 1.000.000 Liquidatoren ist fatal. Nach offiziellen ukrainischen Angaben sind mehr als 90 Prozent krank oder arbeitsunfähig. Laut WHO muss man mit rund 100.000 Schilddrüsenkrebsfällen allein in der Tschernobyl-Region rechnen. Viele andere Krankheiten stiegen nach Tschernobyl steil an.
Nicht haltbar ist auch die Spiegel-Darstellung bezüglich der strahlenbedingten Todesfälle durch das Zünden von Atomwaffen. Offiziellen Angaben zufolge starben durch den Atombomben-Abwurf über Hiroshima am ersten Tag 45.000 Menschen an den direkten Folgen von Hitze und Druck. »Jedes Schulkind kann erklären, dass die überwiegende Mehrzahl der Opfer verdampfte, verbrannte oder zerquetscht wurde, bevor sie an Strahlenkrankheit sterben konnte«, so Pflugbeil.
Die Strahlung mit hoher Dosis reichte in Hiroshima nicht so weit wie Druck- und Hitzewelle, so dass außerhalb dieser durch Druck und Hitze gestorbenen Menschen, nur noch relativ niedrige Strahlendosen die Menschen erreichten. Der Umstand, dass nach offiziellen Zahlen selbst durch die niedrigen Strahlendosen eine große Zahl weiterer Menschen durch die Radioaktivität zu Tode kamen, beweist, dass auch die Niedrigstrahlung zahlreiche Todesopfer fordert.
Obwohl die Daten von Hiroshima und Nagasaki erhebliche Mängel aufweisen (z.B. erst 5 Jahre nach der Bombardierung einsetzende Datenerfassung, Verwendung einer ebenfalls radioaktiv belasteten Kontrollgruppe) tragen sie bis heute wesentlich zur Ermittlung des Strahlenrisikos bei. In den letzten Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass das Risiko, nach Strahlenbelastung an Krebs zu sterben, wieder und wieder nach oben korrigiert werden musste.
Millionen Menschen starben zudem - was der Spiegel vollständig unterschlägt - an den Folgen der Atomwaffentests. Nach UNSCEAR 1993 (S. 203, Tabelle 5
ist durch die atmosphärischen Nuklearwaffentests eine Kollektiv-Dosis (effektiv) von 22.300.000 Man-Sievert verursacht worden. Verknüpft mit dem Risikofaktor für tödliche Krebserkrankungen von UNSCEAR von 11% pro Sievert kommt man rechnerisch auf knapp 2,5 Millionen Krebstote allein durch die Atomwaffentests. Würde man die neuen Erkenntnisse des EU-Forschungsprojekts »Soul« über Majak berücksichtigen (20% pro Sievert nach Dr. Jacob), käme man sogar auf rund 4,5 Millionen Krebstote. Hinzu kommen die zahlenmäßig weitaus größeren nicht-tödlichen Krebserkrankungen und die sonstigen strahlen-bedingten Erkrankungen sowie die Totgeburten.
Die IPPNW warnt eindringlich vor einer leichtfertigen Legendenbildung vom »harmlosen Atom«, wie es im Spiegel Artikel zum Ausdruck kommt. Dies dient weniger einer seriösen wissenschaftlichen Auseinandersetzung, als vielmehr den Interessen der Befürworter einer zivilen oder militärischen Nutzung der Atomenergie.
Weitere Informationen zu Langzeitfolgen in Hiroshima und Nagasaki:
http://www.ippnw.de/Atomwaffen/Gesun...tombomben.html
Studie der IPPNW und der Gesellschaft für Strahlenschutz zu Tschernobyl-Folgen:
http://www.ippnw.de/Atomenergie/Tschernobyl-Folgen/
Kontakt: Sebastian Pflugbeil (Tel. 030-44 93 736), Xanthe Hall (Tel. 030-69 80 74-12), Henrik Paulitz (Tel. 0621-39 72 66
Quelle: IPPNW