Sozialraub - Analysen zur Politik des globalen Kapitals
Hartz IV - HIV
Rede von Ellen Diederich zum Hartz-IV-Hearing vor dem Düsseldorfer Landtag am 12.9.2008
Nimmt man die römische IV als Buchstaben, so heißt Hartz IV abgekürzt HIV. Es gibt durchaus Parallelen mit Aids - HIV – positiv und Hartz IV: Ausgrenzung, keine Zukunftsperspektiven, Verweigerung von Heilung, von bezahlbaren Lösungen. „Hartz IV“ heißt die neue Krankheit, die sich ab dem 1. Januar 2005 epidemieartig bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ausbreitet: Ursache: Soziale Ungerechtigkeit, Symptom: Armut.
Den Begriff Hartz IV Empfänger kann ich nicht ausstehen. Es erinnert an frühere Kirchen, in denen eine Holzpuppe mit schwarzer Haut und Turban mit einem Teller für Spenden stand. Wurde Geld hingelegt, nickte die Puppe. Besser gefällt mir: Hartz IV Abhängige!
Wenn ich von Hartz IV rede, weiß ich wovon. Vor fünf Jahren wurde ich erwerbs-, nicht arbeitslos. Darauf bestehe ich! Meine Erfahrung ist die: Lange – Zeit – Erwerbslos zu sein. Tag für Tag, Nacht für Nacht, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr.
„Was ist Hartz IV? Hartz IV ist offener Strafvollzug. Es ist die Beraubung von Freiheitsrechten. Hartz IV quält die Menschen, zerstört ihre Kreativität. Wir brauchen ein Recht auf Einkommen. Ein Recht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen.“ Sagt Götz W. Werner und fordert ein arbeitsunabhängiges Grundeinkommen. Ein Grund für die Zukunft: Das Grundeinkommen.
Die Stiftung, mit der ich viele Jahre zusammen gearbeitet habe, ist Pleite gegangen. Ich bin „zu alt“ für den Arbeitsmarkt, und habe viel zu viel subversive politische Arbeit gemacht, um eine bezahlte Arbeit zu finden. Gearbeitet habe ich immer, vor allem Friedensarbeit gemacht. Im Unterschied zur Arbeit mit dem Krieg wird Friedensarbeit schlecht oder gar nicht bezahlt. Für siebeneinhalt Monate habe ich nun eine ABM Stelle. Ich wusste gar nicht, dass es die noch gibt. Die Bezahlung ist 80% einer BAT 4b-Stelle. Meinen Arbeitsplatz, Büro, Miete, Strom, Telefon, Sachkosten muss ich selber von diesem Gehalt finanzieren.
Als Lang Zeit Erwerbslose bin ich mit der Situation von ständig steigender Armut wohl vertraut. Verarmung geschieht schleichend, greift immer tiefer in die Psyche und das Leben ein. Die Bedrohung der permanenten Reduzierung von Lebensmöglichkeiten schafft die Kälte einer undefinierbaren Angst, lässt die Wut einfrieren. Der Prozess wird täglich dadurch unterstützt, dass in den Medien so genannte „ExpertInnen“, ProfessorInnen, WissenschaftlerInnen – von denen wenige im Interesse der Betroffenen arbeiten über etwas reden – was sie nicht betrifft.
Wir, die wir in diesem Prozess sind, sind die Fachleute, können das viel besser beschreiben, was das ist: Armut in Deutschland.
Ich würde die so genannten ExpertInnen gerne mal mitnehmen in die Arbeitsagentur. Wo Menschen mit grauen Gesichtern in der Schlange vor und hinter mir stehen. Wo ich verzweifelt überlege, was ich da tun kann? Musik mitbringen? Tango tanzen? Clownin spielen, um die stundenlange Wartezeit zu verkürzen? Aus dem Leitfaden zum SGB II vorlesen, damit die Menschen über ihre Rechte informiert werden? Es ist der Ort, wo es keine Garderobenhaken gibt, man also im Winter in dicken Klamotten herumsteht, wo eine Stimme den Nachnamen ohne Herr oder Frau aufruft. Was sie dann, nachdem ich sehr vernehmlich protestiert habe, nicht mehr tut.
"Die Geschichte der neuen Exklusion beginnt bei und mit den Flüchtlingen, das Asyl-, das Flüchtlings- und Ausländerrecht war und ist ihr Exerzierfeld, dort wurden Rechtsverkürzung, Leistungsverkürzung, Ausgrenzung erstmals ausprobiert und praktiziert. Bei den Flüchtlingen wurde die Politik der Entsolidarisierung eingeübt, Opfer waren die Schwächsten der Schwachen. Seitdem folgen die anderen Schwachen." (Heribert Prantl, Kein schöner Land, zit. Nach Contraste, Juli/August 2005)
Ich lebe in Oberhausen. Die Stadt ist eine der ärmsten des Ruhrgebietes mit hoher Erwerbslosigkeit. Die Armut ist sichtbar. In meinem Stadtviertel Oberhausen Mitte leben inzwischen 48% der Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Erinnern wir uns: 2% der Bevölkerung verfügt über die Hälfte des Vermögens in diesem Land.
Ich sammle Zeugnisse über die Anpassung der Medien und der Werbung an die Verarmung. „Essen sie sich reich! Hier sind die Brötchen einen Cent billiger“, wirbt eine Bäckerkette. „Wenn die Menschen kein Brot haben, sollen sie doch Burger essen – Deutschland braucht einen König!“ wirbt Burger King in Anlehnung an den berühmten Satz von Marie Antoinette, als sie den Hungermarsch auf Versailles ankommen sieht.
Ich bin Sozialwissenschaftlerin und Friedensarbeiterin, bin in vielen Kriegs- und Hungergebieten gewesen, kann die verschiedenen Formen von absoluter und relativer Armut gut unterscheiden. Ich habe gelernt zu beobachten und zu analysieren. Das kann ich. Alles analysieren. Ich weiß ja Bescheid. Warum das so ist und wie mit der Globalisierung. Wie es kommt, dass täglich mehr Menschen keine bezahlte Arbeit mehr haben. „Wenn man das weltweite Arbeitsvermögen betrachtet, so sind in den nächsten zehn Jahren etwa die Hälfte der Menschen überflüssige Menschen, die auf die eine oder andere Weise von diesem Planeten verschwinden müssen“, sagt die Ökonomin Susan George. Der Satz trifft mich wie ein Blitzschlag. Genau das geschieht ja längst. Durch die Verweigerung von Nahrungsmitteln, sauberem Wasser, bezahlbaren Medikamenten, durch Krieg um Ressourcen, dem so viele Menschen in der Dritten Welt zum Opfer fallen. Bei uns geschieht das Verschwinden auch durch Erwerbslosigkeit. Die Lebenserwartung von Langzeiterwerbslosen liegt inzwischen um 7 Jahre unter der allgemeinen Lebenserwartung, sagt eine Studie der Humboldtuniversität.
Oft versuche ich, nicht daran zu denken, dass ich Hartz IV abhängig bin. Spüre es besonders im Winter. Heizen nur in einem Zimmer, und auch nur dann, wenn ich längere Zeit dort bin. Sitze im Mantel, Wolldecke über die Beine, dicke Socken, Handschuhe, wie sie die Marktfrauen tragen, in denen die Finger frei sind und warme Schuhe, wenn ich schreibe. Bin ich unterwegs bei einem Treffen in durchgängig geheizten Räumen, ist mir das fremd. Wundere mich nicht, dass ich immer weniger schlafen kann, nachdem einer der Briefe, die etwa 700.000 Menschen erreicht haben, auch bei mir in den Briefkasten flattert. Ihre Wohnung ist zu groß, zu teuer.
In sechs Monaten soll ich die Kosten senken, mit dem Vermieter verhandeln, dass er die Miete reduziert. Ich soll Fenster abdichten, Isolierungen einbauen, um Heizkosten zu sparen – das geht wunderbar von 345 Euro Hartz IV im Monat. Oder ich soll Untermieter aufnehmen. Oder ich soll in eine "angemessene" Wohnung einziehen: 45 Quadratmeter, 216 Euro Miete als Obergrenze.
Im Zusammenhang mit der Aufforderung, die Wohnungen zu räumen, hat die größte Vertreibungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland begonnen. Dabei ist eine Wohnung nicht ein Quadrat aus gemauerten Steinen, mit Tapeten bezogen, das beliebig gewechselt werden kann. Wohnen heißt, in einem Stadtteil zuhause zu sein, soziale Zusammenhänge zu haben. Offensichtlich aber sollen Stück für Stück Entscheidungsmöglichkeiten den Armen weggenommen werden, also auch die Entscheidung darüber, wo wir leben wollen.
Die Bedrohung durch die Enteignung des gelebten Lebens rückt näher. Seit ich diesen Brief bekommen habe, heißt Wohnen auch: Nächte ohne Schlaf, Erhöhung der Stromkosten, weil Radio oder Fernsehen laufen, um die bohrenden Gedanken zu übertönen. Wenn ich einschlafe, wache ich bald auf, weil Wellen von Angst durch den Körper gehen. Ich träume, dass ich losfahre mit einem Ziel, aber nie dort ankomme, sondern immer irgendwo lande, wohin ich gar nicht will. Ich fahre ans Meer und kann es nicht erreichen. Ich träume von zerbrochenen Brillen, ausgefallenen Zähnen, die ich nicht mehr ersetzen kann. Phantasien von Vertreibung, Flüchtlingsdasein, Obdachlosigkeit geistern durch die Träume. Ich, die ich so gut wie nie krank war, bin mit einem Mal dauernd krank. Ich tappe, wie so viele, die betroffen sind, in die Angstfalle. Doch meine Wut wächst.
Die Wellen von Angst, die durch den Körper gehen, vor der Bedrohung, die Wohnung zu verlieren und davor, von der Teilhabe am sozialen, kulturellen Leben ausgeschlossen zu sein, sind durch noch so viel Reflexion nicht wegzubringen. „Freiheit, Wecker, Freiheit, das heißt keine Angst haben vor nix und niemand“, sagt der Willy im Lied von Konstantin Wecker. „Angst essen Seele auf.“
In der letzten Woche gab es einen Forschungsbericht von zwei so genannten Experten der Universität Chemnitz. Ihre Namen spare ich aus, weil ich finde, wir sollten ihnen nicht noch mehr Popularität geben. Einer von ihnen lehrt, wie Börsenanlagen und Investment-Banking funktionieren. Dieser Bericht zusammen mit einer Sendereihe in Sat 1, in der Sozialfahnder auf der Suche nach BetrügerInnen sind, die zu Unrecht Hartz IV beziehen, löst eine beispiellose Hetzkampagne gegen Erwerbslose aus. Untersuchungen sagen, dass weniger als 2 Prozent der Hartz IV Abhängigen zu Unrecht Leistungen beziehen. Die subventionierten Betriebe wie Nokia, die Steuerflüchtlinge, die Reichen, die Steuererleichterungen haben, sind die wahren SozialhilfeempfängerInnen in großem Stil in diesem Land. Statt einer uns aufgezwungenen Neid Debatte ist es an der Zeit, eine Gierdebatte anzufangen und diese sozialen Verbrechen aufdecken.
Im Chemnitzer Bericht wird behauptet: 132 Euro im Monat reichen aus, um ein soziokulturelles Existenzminimum für einen Erwachsenen zu sichern. Kinder unter 14 Jahren können mit 79 EUR pro Monat auskommen. Das entspricht den Kosten einer Hundehaltung im Tierheim.
Die berechneten Kosten sind:
3.30 für Lebensmittel pro Tag
17 Euro für Kleidung und Schuhe im Monat, um 50% reduziert
0 Euro für Haushaltsstrom und Wohnungsinstandhaltung
Statt 25 € monatlich nur noch 7 € zum Ansparen für Haushaltsgeräte. Für eine Waschmaschine also 40 Jahre sparen.
Telefonkosten 2 € monatlich.
Freizeit, Unterhaltung, Kultur von 39 Euro, in dem der Schulbedarf für Kinder eingeschlossen ist, auf 1 Euro monatlich gekürzt.
Das scheint der Betrag zu sein, den diese beiden Menschen für Kultur ausgeben, anders kann man sich einen solchen Schwachsinn nicht erklären.
Wir sollten fordern, dass diese zwei Männer von morgen an für mindestens zwei Jahre von diesem Betrag leben und uns zeigen, wie es sich davon lebt.
Ich schätze das Buch von Gabi Gillen: „Hartz IV eine Abrechnung“ sehr. Dieses Buch hat ihre Position im WDR nachhaltig geschädigt. Das Buch durfte dort nicht erwähnt werden und sie muss seitdem ihre Sendungen abzeichnen lassen. In diesem Buch fragt sie:
„Wie und warum verschwindet der von uns allen erarbeitete Reichtum?" In Deutschland nahm das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen zwischen 1991 und 2000 um drei Milliarden Stunden ab. „Das könnte eine durchaus erfreuliche Tatsache sein, wenn die erhöhte Produktivität über Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich weitergehen würde. Stattdessen werden Menschen „freigesetzt“, und die anderen müssen sogar noch länger arbeiten, ohne Lohnausgleich.“ „Anders ausgedrückt: Das tatsächliche Wachstum der Wirtschaft wird von einer kleinen Schicht kassiert und von der großen Masse der Gesellschaft bezahlt – mit steigender Arbeitslosigkeit, insbesondere auch Jugendarbeitslosigkeit, Kinderarmut, mit sinkenden Realeinkommen, mit der Ausbreitung des Niedriglohnsektors und einer wachsenden Zahl von Sozialhilfeempfängern, mit Frühverrentungen und der Kürzung von Renten, mit Steuerentlastungen für die großen Unternehmen.
Das Ziel der Angriffe ist klar. Ihr und ich, wir sollen zugerichtet werden für die Zwecke der Wirtschaft. Die Kolonialisierung der Bevölkerung im eigenen Land. Die Verbilligung von Arbeitskräften, die Reduzierung oder Abschaffung von Sozialkosten, die Entrechtung derjenigen, die einen Arbeitsplatz haben, wie derjenigen, die einen Arbeitsplatz suchen. Die Entsorgung des ganzen Demokratie- und Solidaritätsklimbims. Zu wenig effektiv, zu teuer.
Anzuzeigen sind fortgesetzte tätliche Angriffe auf den Sozialstaat und die Demokratie. Gemeldet werden Angriffe auf Arbeitslose und Mittelstand, auf Kinder und Jugendliche, alte und kranke Menschen, auf Tarifverträge und Mitbestimmung, auf Pressefreiheit und Bürgerrechte“, so Gabi Gillen in ihrem Buch.
Um Menschen nicht verhungern zu lassen, wird auf private Wohltätigkeit gesetzt. Wir sind auf dem Weg in eine Vertafelung der Gesellschaft. Ich weiß, dass die Tafeln überlebensnotwendig für viele Menschen geworden sind. Aber sie sind keine Lösung. Wir tappen in die Wohltätigkeitsfalle. Politisch bin ich gegen die Tafel. Warum? Weil sie eine Notlösung sind, die nichts und gar nichts mit wirklichen Lösungen zu tun hat.
Unsere Vorschläge sind andere.
Die Grundentscheidung muss heißen: Auch wenn der Markt Menschen ausschließt, die zu arm sind, um Konsumenten zu sein, sind sie trotzdem Bürger und Bürgerinnen. Ernährung, Wohnung, Bildung, Gesundheit der Menschen dürfen nicht durch Marktmechanismen gefährdet sein. Es ist die Pflicht der Regierungen, Defizite auszugleichen.
Die sozialen Rechte, die wir hatten, die jetzt Stück für Stück vernichtet werden, waren keine Geschenke, sondern das Ergebnis der Kämpfe vieler Generationen mit unzähligen Opfern. Der Begriff soziale Gerechtigkeit ist ein Begriff der Französischen Revolution und der Arbeiterbewegung, die so sehr dafür gekämpft haben, die Misere sichtbar zu machen und zu verändern. Prekarität ist die Wegnahme erkämpfter sozialer Rechte, ein Ergebnis neoliberaler kapitalistischer Politik, die sich Frauen und Männer ohne Widerstand gefallen lassen sollen. Das werden wir nicht tun.
Im Jahr 2000 haben die Vereinten Nationen die Dekade des Friedens ausgerufen. Basis der Dekade des Friedens ist die Forderung, dass jeder Mensch auf der Erde ein Anrecht auf Arbeit, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Freiheit und Glück hat. Bei Pablo Neruda hieß das: „Ich möchte Erde, Feuer, Wasser, Brot, Zucker, Meer, Bücher, Heimat für alle.“
Lasst uns einen neuen Anstoß machen, ein Netzwerk der Erwerbsloseninitiativen aufzubauen. Die Überschrift kann bleiben: Statt Ich-AG’s also WirKollektive. Als wir begonnen haben, haben wir drei Kriterien entwickelt, an denen wir arbeiten wollen:
* Qualifizierung der Betroffenen in rechtlichen Fragen
* Selbstorganisation, um die Lage lebbar zu machen: Was sind Sokaufhäuser, Gemeinschaftswohnungen, Tauschringe, Flächen für den Anbau von Nahrung, Volksrestaurants und Essensversorgung in Schulen in unserem Sinne? Wir müssen nicht bei 0 anfangen, es gibt lange Traditionen, auf die wir uns besinnen können.
* Aktionen und die Entwicklung von politischen Strategien und Kultur
Kultur vor allem, es ist so viel verloren gegangen. Wenn eine Bewegung keine eigenständige Kultur, Lieder, Theaterstücke entwickelt, ist sie nicht lebendig. 1968 ist jetzt vierzig Jahre her. Ich gehöre zu den Achtundsechzigern. In diesem Jahr ist viel über 1968 und noch viel mehr Unfug darüber geredet worden. 1968 war in allererster Linie das Bewusstsein darüber: Wir werden die Welt verändern. Ernst aber nicht verbissen, mit viel Humor und lustvollem Spott.
Achtundsechzig, das ist das lustvolle Zähnefletschen
des Gespenstes der Freiheit, der nachhaltige Schrecken
für jede Art von Autoritäten und Bürokraten.
Widerstand ist das Geheimnis der Freude!
Lg
Grilleau
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