@NebbStar: Hat leider länger gedauert mit dem Interview
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Liebe Impulsgeber,
passend zum Schuljahresbeginn können wir Euch heute ein Exklusivinterview
mit Dagmar Neubronner präsentieren. Wir freuen uns, dass sie ihre Gedanken
und eine kurze Beschreibung ihrer Lebenssituation mit uns teilt.
Ich könnte mir vorstellen, dass es für viele Menschen immer interessanter
wird, derartige Texte zu lesen. Das Bedürfnis nach Alternativen zum
herkömmlichen System wird größer; mehr und mehr Eltern melden ihre Kinder
in sogenannten Ersatzschulen an oder suchen Möglichkeiten, ihnen
Heimunterricht oder Freilernen zu ermöglichen. Solch krasse Fälle wie die
der Familie Neubronner, die wegen staatlichen Repressalien ins Ausland
gegangen sind, zeigen allerdings, dass noch viel zu tun ist. Vielleicht
finden die Rufe nach einer Lockerung des bisherigen starren Systems vor
dem nächsten Wahlkampf offenere Ohren als bisher?
Bildungsreiche Wochen bis zum nächsten Rundbrief wünscht
Tomas Eckardt
mailto:tomas.eckardt@neueimpulse.org
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1. Exklusivinterview mit Dagmar Neubronner
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Frage:
Liebe Dagmar Neubronner, Du und Deine Familie sind unseren Mitgliedern
bestens bekannt. Ihr seid ins Ausland "geflüchtet", weil Euch die
deutschen Behörden massiv unter Druck gesetzt haben, als Ihr Eure Kinder
konsequent im Homeschooling-System unterrichtet habt. Könntest Du uns
berichten, wie es Euch heute geht?
Dagmar Neubronner:
Wir leben derzeit überwiegend in Frankreich, wo uns ein Freund eine
Wohnung gegen Nebenkosten zur Verfügung gestellt hat. Ich bin ja weiterhin
in Deutschland gemeldet und habe hier auch noch unser Büro, und natürlich
sind wir auch ab und zu hier, besonders in den Ferien. Wir sind ja nicht
verbannt und hoffen natürlich auch nach wie vor, dass sich die
Rechtssprechung in Deutschland dem internationalen Standard anpassen wird.
Es ist allerdings nicht zutreffend, dass wir unsere Kinder "im
Homeschooling-System unterrichten". Wir unterrichten unsere Kinder
eigentlich gar nicht, so wie man sich das vorstellt (und wie wir uns das
im Anfang auch vorgestellt haben), indem wir zu Hause Schule spielen. Sie
sind eher Unschooler oder Freilerner als "Homeschooler". Jetzt wo sie im
Ausland und frei sind, können sie sich ganz ihren eigenen Projekten widmen
und tun das auch. Sie machen viel Musik, geben kleine Konzerte, lesen
viel, spielen mit Freunden und Verwandten (wir haben viel Besuch),
arbeiten und spielen auch viel am PC, bolzen Fußball, springen Trampolin
(in Frankreich haben wir ein genauso großes Trampolin wie zuhause
vorgefunden ...), schreiben Geschichten, rechnen und vor allem: Sie
spielen, spielen und spielen, mit Playmobil oder draußen, wozu Kinder in
ihrem Alter ja kaum noch kommen. Ihre akademischen Leistungen entwickeln
sich dabei so nebenbei zu unserer vollen Zufriedenheit. Thomas malt auch
weiterhin sehr viel.
Jedenfalls geht es uns prima. Trotzdem wären wir gern wieder in Bremen und
arbeiten natürlich auch daran, die Situation in Deutschland entsprechend
zu verändern.
Frage:
Wie ist der Stand in Eurer Auseinandersetzung mit den deutschen Behörden?
Dagmar Neubronner:
Wir hatten ja gegen unsere Stadt geklagt, weil sie unseren Kindern
Bildungsfreiheit verweigert, und haben den ersten Prozess verloren. Uns
wurde aber "wegen der grundsätzlichen, übergeordneten Bedeutung des
Falles" die Möglichkeit der Berufung zugestanden, die wir auch eingelegt
haben. Auf unsere Berufungsverhandlung warten wir seit nunmehr fast 2
Jahren. In dieser Zeit hat sich sehr viel getan und tut sich noch in der
öffentlichen Wahrnehmung und Einschätzung von Freilernen.
Da sich inzwischen sogar schon das EU - Parlament mit dem Thema Schulzwang
in Deutschland auseinandersetzt hat und die Unzufriedenheit von so vielen
Eltern und Kindern mit dem Schulsystem immer mehr zunimmt, bin ich guter
Hoffnung, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird - wenn genügend
wache Menschen mit ihren Kindern einfach andere Wege gehen.
Frage:
Was verstehst Du unter Bildung?
Dagmar Neubronner:
Bildung ist für mich das Ergebnis des jedem Menschen innewohnenden
lebenslangen Dranges, neue Dinge zu erfahren, neue Kompetenzen zu erwerben
und die Welt zu erkunden. Insofern ist Bildung etwas zutiefst
Individuelles. Da Menschen als soziale Rudelwesen angelegt sind, wollen
die meisten bestimmte grundlegende Kulturtechniken, die sie in ihrem
Umfeld erleben, wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Autofahren, Kochen,
Musizieren, Malen, Feuermachen, Fahrradfahren, Computertechnik und so
weiter, erlernen und ausüben. Menschen interessieren sich für das, was sie
in ihrem Umfeld als relevant und wichtig erleben, und verleiben sich das
ein. Das bedeutet, Bildung ist das, was unsere Kinder automatisch
erwerben, wenn wir es ihnen vorleben, oder, mit Erich Kästners Worten:
"Erziehung ist sinnlos. Die Kinder machen uns ja doch alles nach."
Frage:
Besteht Deiner Ansicht nach ein Unterschied zwischen Bildung von Kindern
und Bildung Erwachsener?
Dagmar Neubronner:
Ja, zwei. 1. Kinder können sehr viel schneller lernen als Erwachsene und
sind noch nicht so vorgeprägt und verfestigt in ihren Ansichten. Sie haben
noch - bis es ihnen von den Erwachsenen, unter anderem in der Schule,
ausgetrieben wird - ein Bewusstsein davon, dass ihr Potenzial unbegrenzt
ist und in jedem Menschen ein Genie steckt. Erwachsene begrenzen sich
selbst, lernen mehr auf ein Ergebnis hin zielgerichtet und weniger
"einfach so".
2. In unserer Gesellschaft dürfen Erwachsene sich weitgehend aussuchen,
was, wann, von wem und wie sie lernen möchten, soweit es sich nicht durch
den Beruf automatisch ergibt. Kindern wird meist ein vorgegebenes Programm
aufgezwungen.
Darüber hinaus gibt es bei Erwachsenen wie Kindern zwei Arten des Lernens,
das intrinsische, aus eigenem Interesse geborene aktive Forschen und
Erarbeiten, und das mechanische, bei dem meist nicht viel auf Dauer
hängenbleibt.
Frage:
Gibt es denn auch Bestandteile unserer gängigen Schulbildung, die Du als
wichtig und notwendig anerkennen würdest?
Dagmar Neubronner:
Wir lernen zunehmend, dem natürlichen Lern- und Bildungshunger unserer
Kinder zu vertrauen und staunen über die Ergebnisse. Der Lehrplan in der
Schule, der mir früher unverzichtbar erschien, kommt mir mittlerweile wie
ein müder Schwarzweiß-Abklatsch dessen vor, was natürliches Lernen
eigentlich bedeutet. Unsere Kinder lernen unentwegt, aber nicht in
wohlgeschnürten nach Fächern geordneten theoretischen Paketen, sondern in
kleinen Häppchen und Bruchstücken, die genau das umfassen, was hier und
jetzt für ihr eigenes Leben relevant ist. Relevant war z. B. die
Fußballweltmeisterschaft. Unsere Kinder können seitdem die meisten
Hauptstädte der Welt nennen plus wichtige Fußballstädte, die keine
Hauptstädte sind. Sie wissen aus den Interviews mit Spielern, die sie
gelesen und gehört haben, mehr über die Situation in deren Heimatländern,
als nach mehrjährigem Erdkundeunterricht hängenbleiben würde. Englisch? Es
gibt so spannende Foren und Chats, die in Englisch laufen, Liedtexte, usw
...
Es gibt allerdings auch Ausnahmen, z.B. Mathematik. Das kommt im Leben
nicht vor. Hier speiste sich Moritz' Motivation zunächst daraus, als
Freilerner nicht hinter den Schulkindern zurückzubleiben, und jetzt rückt
allmählich der Spaß am Rechnen und das Interesse in den Vordergrund. Er
arbeitet freiwillig jeden Tag zwei Einheiten auf der genialen Matheseite
www.realmath.de durch und freut sich, dass er schon lange mit dem Stoff
der 6. Klasse beschäftigt ist, obwohl er ja erst jetzt in die 6. Klasse
käme. Thomas (9 J.) hat Rechenaufgaben bisher verabscheut, weil es ihn
langweilt, nur so zum Üben dieselbe Rechenoperation vielfach
durchzuführen. Da er im Alltag, z.B. bei Würfelspielen und Einkäufen,
problemlos rechnet, warten wir beruhigt ab, bis aus seinem gelegentlichen
interessierten Zuschauen bei Moritz Rechnen aktives Mitmachenwollen wird.
Frage:
Wie stehst Du zu traditionellen Inhalten wie Klassikern in Literatur und
Musik oder antiken Texten und Sprachen wie Latein und Griechisch?
Dagmar Neubronner:
Wenn ich heute sehe, wie unsere (und andere frei lernende) Kinder leben
und lernen, könnte ich weinen über die Zeitvergeudung meiner Schulzeit.
Was hätte ich in diesen 12 Jahren alles tun und lernen können, wenn ich
nicht in der Schule hätte herumhocken müssen! (Wir sagten damals "Lieber 6
Stunden Schule als gar keinen Schlaf!") Ich glaube, wichtiger als jeder
konkrete ("klassische Bildungs-") Inhalt ist es für unsere Kinder, ihren
Körper, ihre Motorik, ihr Denkvermögen Gedächtnis, ihren Willen, ihr
Urteilsvermögen, ihre Durchhaltekraft, und all das (an irgendwelchen
selbstgewählten Inhalten, die gerne auch klassisch sein dürfen) zu
schulen, und die Welt als spannenden Ort kennen zu lernen, in dem sie
selbst begeistert als aktiv Handelnde unterwegs sind und in dem ihnen
alles an Wissen und Können offensteht, was sie wollen. Welche Inhalte sie
sich dann erarbeiten, ist demgegenüber völlig nebensächlich und folgt, so
unsere Erfahrung mit unseren Kindern, einem sehr individuellen Programm.
Es will ja auch jeder Mensch etwas Individuelles hier auf der Erde tun,
insofern ist das nur logisch ...
Latein und Griechisch können sie jederzeit problemlos und schnell lernen,
wenn sie ein Motiv dafür haben, z.B. weil sie Medizin oder Geschichte
studieren wollen. Klassische Musik lernen sie kennen, weil Menschen in
ihrem Umfeld sich damit aktiv beschäftigen und sie selber welche machen.
Den Zugang zu klassischer Literatur werde ich ihnen bestimmt nicht
vermiesen, indem ich ihnen vorschreibe, was sie lesen sollen. Meine
Begeisterung für Literatur (in mir steckte damals schon die Übersetzerin
und Publizistin) stammt nicht aus der Schule, sondern war einfach in mir.
Literatur in der Schule war demgegenüber ein Graus. Ich hatte schon vor
Schuljahresbeginn alles "freiwillig" gelesen und langweilte mich, und
andere, die sich dafür nicht interessierten, quälten sich: "Wir müssen nur
bis Seite 28 lesen!" "Das müssen wir nicht wissen!"
Wir geben unseren Kindern natürlich Bücher, die wir selbst toll finden,
und erzählen ihnen von dem, was uns begeistert - manches kommt an, Manches
nicht oder noch nicht. Das größte Hindernis diesbezüglich ist die
blödsinnige Aufteilung der deutschen Bibliotheken in Kinder und
Erwachsenen-Literatur. In der Kinderabteilung finden Kinder nur spezielle
Kinderbücher, die meist einfach öden. An die Klassiker kommen sie nicht
heran, die stehen bei den Erwachsenen, da dürfen sie nicht ausleihen. So
werden sie künstlich in ihrer bunten Lindgren- und Potter-Kinderwelt
gehalten und können nicht mal stöbern bei Storm, bei Hesse, bei Goethe,
bei Shakespeare - das kriegen sie nur als Zwangskost in der Schule (oder
von speziell motivierten Eltern mit viel Platz für Bücherregale).
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass bei mir von 12 Jahren Schule (2
Kurzschuljahre ...) ausschließlich das hängengeblieben ist, was mich
entweder schon damals interessierte oder was ich als Kind und Jugendliche
wirklich brauchte. Alles andere schwebt in meinem Kopf als wabernde Masse
von "da war mal was" - wenn ich etwas wirklich wissen will, gehe ich ins
Internet oder in die Bibliothek - so wie angehende (z.B. Medizin-)
Studenten, die in der Schule kein Latein und Griechisch hatten, das in
wenigen Monaten problemlos an der Uni in speziellen Kursen nachholen.
Effektives Lernen selbst habe ich persönlich erst im Studium wirklich
gelernt, und nicht von den Professoren.
Frage:
Könntest Du Dir vorstellen, für NEUE IMPULSE, für unsere Stammtische oder
auch in anderem Rahmen Vorträge über Bildung und Bildungsfreiheit zu
halten? Falls ja, wie kann man Dich einladen?
Dagmar Neubronner:
Ich halte schon die ganze Zeit und gerne Vorträge über unsere Erfahrungen,
sowohl zum Thema Freies Lernen ohne Schule als auch zum Thema Lernen (vor
allem soziales) in der Schule (Übrigens: Ich bin schon mehrfach auch zu
Lehrertagungen eingeladen worden. Entgegen verbreiteter Vermutungen habe
ich überhaupt nichts gegen Lehrer und achte ihr Engagement sehr. In den
Ländern mit Bildungsfreiheit befruchten sich Freilerner, Homeschooler und
Schulen mittlerweile gegenseitig. Die Lebensbedingungen von Kindern haben
sich in den letzten Jahrzehnten extrem stark geändert, und wie so oft
verstehen wir erst, wie etwas funktioniert, wenn es nicht mehr
funktioniert, und dazu gehört das Lernen (auch das soziale!) und Reifen
von Kindern und Jugendlichen.)
Ich komme gern zu jedem Stammtisch und auch sonst überallhin. Aufgrund
unserer Exilsituation wäre es allerdings sehr gut, wenn das als Reihe
angelegt werden könnte, so dass ich nur einmal nach Deutschland anreise,
dann von Stadt zu Stadt fahre und jeden Tag woanders spreche. Ich brauche
die Fahrtkosten per Bahn oder Billigflug, eine Übernachtung (gern privat,
solange ich eine Zimmertür hinter mir zumachen kann) und als Minimum 250 €
pro Vortragsabend mit ausführlicher Diskussion. Ich würde so eine Reise
auch in meinem umfänglichen Verteiler bekanntgeben, da würden sicher die
ein oder anderen dazukommen.
Anfragen unter mailto:bildungsfreiheit@web.de
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2. Offener Brief an Bildungsministerin Schavan
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Unterschriften für einen offenen Brief von Dagmar Neubronner und einigen
anderen Erstunterzeichnern an Bildungsministerin Schavan können unter
http://www.netzwerk-bildungsfreiheit...f_schavan.html
getätigt werden. Es wäre hilfreich, wenn sich noch viele beteiligen!
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3. "Bildung unter dem Diktat der Wirtschaft"
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Ein sehr lesenswerter Kurzartikel, der hervorragend zu unsrem heutigen
Interview passt.
Klicken Sie
http://www.initiative.cc/Artikel/200...%20Bildung.htm