Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit - Bert Brecht (193
Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will, hat zumindest
fünf Schwierigkeiten zu überwinden. Er muss den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben,
obwohl sie allenthalben unterdrückt wird die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie
allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das
Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List sie unter diesen
zu verbreiten. Diese Schwierigkeiten sind gross für die unter dem Faschismus
Schreibenden, sie bestehen aber auch für die, welche verjagt wurden oder
geflohen sind, ja sogar für solche, die in den Ländern der bürgerlichen Freiheit schreiben.
1. Der Mut, die Wahrheit zu schreiben
Es erscheint selbstverständlich, dass der Schreibende die Wahrheit schreiben
soll in dem Sinn, dass er sie nicht unterdrücken oder verschweigen und dass
er nichts Unwahres schreiben soll. Er soll sich nicht den Mächtigen beugen,
er soll die Schwachen nicht betrügen. Natürlich ist es sehr schwer, sich den
Mächtigen nicht zu beugen und sehr vorteilhaft, die Schwachen zu betrügen.
Den Besitzenden missfallen, heisst dem Besitz entsagen. Auf die Bezahlung
für geleistete Arbeit verzichten, heisst unter Umständen, auf das Arbeiten
verzichten und den Ruhm bei den Mächtigen ausschlagen, heisst oft,
überhaupt Ruhm ausschlagen. Dazu ist Mut nötig. Die Zeiten der äussersten
Unterdrückung sind meist Zeiten, wo viel von grossen und hohen Dingen die Rede ist.
Es ist Mut nötig, zu solchen Zeiten von so niedrigen und kleinen Dingen wie
dem Essen und Wohnen der Arbeitenden zu sprechen, mitten in einem
gewaltigen Geschrei, dass Opfersinn die Hauptsache sei. Wenn die Bauern
mit Ehrungen überschüttet werden, ist es mutig, von Maschinen und billigen
Futtermitteln zu sprechen, die ihre geehrte Arbeit erleichtern würden. Wenn
über alle Sender geschrieen wird, dass der Mann ohne Wissen und Bildung
besser sei als der Wissende, dann ist es mutig, zu fragen: für wen besser?
Wenn von vollkommenen und unvollkommenen Rassen die Rede ist, ist
es mutig zu fragen, ob nicht der Hunger und die Unwissenheit und der Krieg
schlimme Missbildungen hervorbringen. Ebenso ist Mut. nötig, um die Wahrheit
über sich selber zu sagen, über sich, den Besiegten. Viele, die verfolgt werden,
verlieren die Fähigkeit, ihre Fehler zu erkennen. Die Verfolgung scheint ihnen
das grösste Unrecht. Die Verfolger sind, da sie ja verfolgen, die Bösartigen,
sie, die Verfolgten, werden ihrer Güte wegen verfolgt. Aber diese Güte ist
geschlagen worden, besiegt und verhindert worden und war also eine schwache
Güte, eine schlechte, unhaltbare, unzuverlässige Güte; denn es geht nicht an,
der Güte die Schwäche zuzubilligen, wie dem Regen seine Nässe.
Zu sagen, dass die Guten nicht besiegt wurden, weil sie gut, sondern weil sie
schwach waren, dazu ist Mut nötig.
Natürlich muss die Wahrheit im Kampf mit der Unwahrheit geschrieben werden
und sie darf nicht etwas Allgemeines, Hohes, Vieldeutiges sein. Von dieser
allgemeinen, hohen, vieldeutigen Art ist ja gerade die Unwahrheit. Wenn von
einem gesagt wird, er hat die Wahrheit gesagt, so haben zunächst einige oder
viele oder einer etwas anderes gesagt, eine Lüge oder etwas Allgemeines,
aber er hat die Wahrheit gesagt, etwas Praktisches, Tatsächliches,
Unleugbares, das, um was es sich handelte.
Wenig Mut ist dazu nötig, über die Schlechtigkeit der Welt und den Triumph
der Roheit im allgemeinen zu klagen und mit dem Triumphe des Geistes zu
drohen, in einem Teile der Welt, wo dies noch erlaubt ist. Da treten viele auf,
als seien Kanonen auf sie gerichtet, während nur Operngläser auf sie
gerichtet sind. Sie schreien ihre allgemeinen Forderungen in eine Welt von
Freunden harmloser Leute. Sie verlangen eine allgemeine Gerechtigkeit,
für die sie niemals etwas getan haben, und eine allgemeine Freiheit , einen
Teil von der Beute zu bekommen, die lange mit ihnen geteilt wurde. Sie
halten für Wahrheit nur, was schön klingt. Ist die Wahrheit etwas
Zahlenmässiges, Trockenes, Faktisches, etwas, was zu finden Mühe
macht und Studium verlangt, dann ist es keine Wahrheit für sie, nichts
was sie in Rausch versetzt. Sie haben nur das äussere Gehaben derer,
die die Wahrheit sagen. Das Elend mit ihnen ist: sie wissen die Wahrheit nicht.
2. Die Klugheit, die Wahrheit zu erkennen
Da es schwierig ist, die Wahrheit zu schreiben,. weil sie allenthalben
unterdrückt wird, scheint es den meisten eine Gesinnungsfrage, ob
die Wahrheit geschrieben wird oder nicht. Sie glauben, dazu ist nur
Mut nötig Sie vergessen die zweite Schwierigkeit, die der Wahrheitsfindung.
Keine Rede kann davon sein, dass es leicht sei, die Wahrheit zu finden.
Zunächst einmal ist es schon nicht leicht, ausfindig zu machen, weiche
Wahrheit zu sagen sich lohnt. So versinkt z.B. jetzt, sichtbar vor aller
Welt, einer der grossen zivilisierten Staaten nach dem andern in die
äusserste Barbarei. Zudem weiss jeder, dass der innere Krieg, der mit
den furchtbarsten Mitteln geführt wird, jeden Tag in den äussern sich
verwandeln kann, der unsern Weltteil vielleicht als einen Trümmerhaufen
hinterlassen wird. Das ist zweifellos eine Wahrheit, aber es gibt natürlich
noch mehr Wahrheiten. So ist es z. B. nicht unwahr, dass Stühle Sitzflächen
haben und der Regen von oben nach unten fällt. Viele Dichter schreiben
Wahrheiten dieser Art. Sie gleichen Malern, die die Wände untergehender
Schiffe mit Stilleben bedecken.
Unsere erste Schwierigkeit besteht nicht für sie, und doch haben sie ein
gutes Gewissen. Unbeirrbar durch die Mächtigen, aber auch durch die
Schreie der Vergewaltigten nicht beirrt, pinseln sie ihre Bilder. Das
Unsinnige ihrer Handlungsweise erzeugt in ihnen selber einen "tiefen"
Pessimismus, den sie zu guten Preisen verkaufen und der eigentlich
eher für andere angesichts dieser Meister und dieser Verkäufe berechtigt
wäre. Dabei ist es nicht einmal leicht zu erkennen, dass ihre Wahrheiten
solche über Stühle oder den Regeln sind, sie klingen für gewöhnlich
ganz anders, so wie Wahrheiten über wichtige Dinge. Denn die
künstlerische Gestaltung besteht ja gerade darin, einer Sache
Wichtigkeit zu verleihen.
Erst bei genauem Hinsehen erkennt man, dass sie nur sagen: ein
Stuhl ist in Stuhl und niemand kann etwas dagegen "machen"
dass der Regen nach unten fällt.
Diese Leute finden nicht die Wahrheit, die zu schreiben sich lohnt.
Andere wieder beschäftigen sich wirklich mit den dringendsten
Aufgaben, fürchten die Machthaber und die Armut nicht, können
aber dennoch die Wahrheit nicht finden. Ihnen fehlt es an Kenntnissen.
Sie sind voll von altem Aberglauben, von berühmten und in alter Zeit
oft schön geformten Vorurteilen. Die Welt ist zu verwickelt für sie,
sie kennen nicht die Fakten und sehen nicht die Zusammenhänge.
Ausser der Gesinnung sind erwerbbare Kenntnisse nötig und erlernbare
Methoden. Nötig ist für alle Schreibenden in dieser Zeit der Verwicklungen
und der grossen Veränderungen eine Kenntnis der materialistischen
Dialektik, der Oekonomie und der Geschichte. Sie ist aus Büchern
und durch praktische Anleitung erwerbbar, wenn der nötige Fleiss
vorhanden ist.
Man kann viele Wahrheiten aufdecken auf einfachere Weise, Teile
der Wahrheit oder Sachbestände, die zum Finden der Wahrheit führen.
Wenn man suchen will, ist eine Methode gut, aber man kann auch
finden ohne Methode, ja sogar ohne zu suchen. Aber man erreicht,
auf so zufällige Art, kaum eine solche Darstellung der Wahrheit,
dass die Menschen auf Grund dieser Darstellung wissen, wie sie
handeln sollten. Leute, die nur kleine Fakten niederschreiben, sind.
nicht imstande, die Dinge dieser Welt handhabbar zu machen.
Aber die Wahrheit hat nur diesen Zweck, keinen andern. Diese
Leute sind der Forderung, die Wahrheit zu schreiben, nicht gewachsen.
Wenn jemand bereit ist die Wahrheit zu schreiben und fähig, sie
zu erkennen, bleiben noch drei Schwierigkeiten übrig.
3. Die Kunst, die Wahrheit handhabbar zu machen als eine Waffe
Die Wahrheit muss der Folgerungen wegen gesagt werden, die sich aus
ihr für das Verhalten ergeben. Als Beispiel für eine Wahrheit, aus der
keine Folgerungen oder falsche Folgerungen gezogen werden können,
soll uns die weitverbreitete Auffassung dienen, dass in einigen Ländern
schlimme Zustände herrschen, die von der Barbarei herrühren. Nach
dieser Auffassung ist der Faschismus eine Welle von Barbarei, die
mit Naturgewalt über einige Länder hereingebrochen ist.
Nach dieser Auffassung ist der Faschismus eine neue dritte Macht
neben (und über) Kapitalismus und Sozialismus; nicht nur die sozialistische
Bewegung, sondern auch der Kapitalismus hätte nach ihr ohne den
Faschismus weiter bestehen können usw. Das ist natürlich eine
faschistische Behauptung, eine Kapitulation vor dem Faschismus.
Der Faschismus ist eine historische Phase, in die der Kapitalismus
eingetreten ist, insofern etwas neues und zugleich altes. Der
Kapitalismus existiert in den faschistischen Ländern nur noch als
Faschismus und der Faschismus kann nur bekämpft werden als
Kapitalismus, als nacktester, frechster, erdrückendster und
betrügerischster Kapitalismus.
Wie will nun jemand die Wahrheit über den Faschismus sagen,
gegen den er ist, wenn er nichts gegen den Kapitalismus sagen
will, der ihn hervorbringt? Wie soll da seine Wahrheit praktikabel ausfallen?
Die gegen den Faschismus sind, ohne gegen den Kapitalismus zu sein,
die über die Barbarei jammern, die von der Barbarei kommt, gleichen
Leuten, die ihren Anteil vom Kalb essen wollen, aber das Kalb soll
nicht geschlachtet werden. Sie wollen das Kalb essen, aber das Blut
nicht sehen. Sie sind zufriedenzustellen, wenn der Metzger die Hände
wäscht, bevor er das Fleisch aufträgt. Sie sind nicht gegen die
Besitzverhältnisse, welche die Barbarei erzeugen, nur gegen die
Barbarei. Sie erheben ihre Stimme gegen die Barbarei und sie tun
das in Ländern, in denen die gleichen Besitzverhältnisse herrschen,
wo aber die Metzger noch die Hände waschen, bevor sie das
Fleisch auftragen.
Laute Beschuldigungen gegen barbarische Massnahmen mögen
eine kurze Zeit wirken, solange die Zuhörer glauben, in ihren Ländern
kämen solche Massnahmen nicht in Frage. Gewisse Länder sind
imstande, ihre Eigentumsverhältnisse noch mit weniger gewalttätig
wirkenden Mitteln aufrecht zu erhalten, als andere. Ihnen leistet die
Demokratie noch die Dienste, zu welchen andere die Gewalt
heranziehen müssen, nämlich die Garantie des Eigentums an
Produktionsmitteln. Das Monopol auf die Fabriken, Gruben,
Ländereien schafft überall barbarische Zustände; jedoch sind
diese weniger sichtbar. Die Barbarei wird sichtbar, sobald das
Monopol nur noch durch offene Gewalt geschützt werden kann.
Einige Länder, die es noch nicht nötig haben, der barbarischen
Monopole wegen auch noch auf die formellen Garantien des
Rechtsstaates, sowie solche Annehmlichkeiten wie Kunst, Philosophie,
Literatur zu verzichten, hören besonders gern die Gäste, welche ihre
Heimat wegen des Verzichtes auf solche Annehmlichkeiten beschuldigen,
da sie davon Vorteile haben in den Kriegen, die erwartet werden.
Soll man da sagen, diejenigen hätten die Wahrheit erkannt , die da
z.B. laut verlangen. unerbittlichen Kampf gegen Deutschland, "denn
dieses ist die wahre Heimat des Bösen in dieser Zeit, die Filiale der
Hölle, der Aufenthalt des Antichrist"? Man soll lieber sagen, es sind
törichte, hilflose und schädliche Leute. Denn die Folgerung aus
diesem Geschwätz ist, dass dieses Land ausgerottet werden soll.
Das ganze Land mit allen seinen Menschen, denn das Giftgas
sucht nicht die Schuldigen heraus, wenn es tötet.
Der leichtfertige Mensch, der die Wahrheit nicht weiss, drückt sich
allgemein, hoch und ungenau aus. Es faselt von "den" Deutschen,
er jammert über "das" Böse, und der Hörer weiss im besten Fall nicht
was tun. Soll er beschliessen, kein Deutscher zu sein? Wird die
Hölle verschwinden, wenn er gut ist? Auch das Gerede von der
Barbarei, die von der Barbarei kommt, ist von dieser Art. Danach
kommt die Barbarei von der Barbarei und hört auf durch die
Gesittung, die von der Bildung kommt. Das ist alles ganz allgemein
ausgedrückt, nicht der Folgerungen für das Handeln wegen
und im Grunde niemandem gesagt.
Solche Darstellungen zeigen nur wenige Glieder der Ursachenreihe
und stellen bestimmte bewegende Kräfte als unbeherrschbare Kräfte,
hin. Solche Darstellungen enthalten viel Dunkel, das die Kräfte verbirgt,
welche die Katastrophen bereiten. Etwas Licht, und es treten Menschen
in Erscheinung als Verursacher der Katastrophen. Denn wir leben in
einer Zeit, wo des Menschen Schicksal der Mensch ist.
Der Faschismus ist keine Naturkatastrophe, welche eben aus der
"Natur" des Menschen begriffen werden kann. Aber selbst bei
Naturkatastrophen gibt es Darstellungsweisen, die des Menschen
würdig sind, weil Sie all seine Kampfkraft appellieren.
In vielen amerikanischen Zeitschriften könnte man nach einem grossen
Erdbeben, das Jokohama zerstörte, Photographien sehen, welche ein
Trümmerfeld zeigten. Darunter stand "steel stood" (Stahl blieb stehen)
und wirklich, wer auf den ersten Blick nur Ruinen gesehen hatte,
bemerkte nun, durch die Unterschrift darauf aufmerksam gemacht,
dass einige hohe Gebäude stehen geblieben waren. Unter den
Darstellungen, die man von einem Erdbeben geben kann, sind von
unvergleichlicher Wichtigkeit diejenigen der Bauingenieure, welche
die Verschiebungen des Bodens, die Kraft der Stösse, die sich
entwickelnde Hitze usw. berücksichtigen und zu Konstruktionen führen,
die dem Beben widerstehen. Wer den Faschismus und den Krieg, die
grossen Katastrophen, welche keine Naturkatastrophen sind, beschreiben
will, muss eine praktikable Wahrheit herstellen. Er muss zeigen, dass dies
Katastrophen sind, die den riesigen Menschenmassen der ohne eigene
Produktionsmittel Arbeitenden von den Besitzern dieser Mittel bereitet werden.
Wenn man erfolgreich die Wahrheit über schlimme Zustände schreiben
will, muss man sie so schreiben, dass ihre vermeidbaren Ursachen
erkannt werden können. Wenn die vermeidbaren Ursachen erkannt
werden, können die schlimmen Zustände bekämpft werden.
4. Das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen die Wahrheit wirksam wird
Durch die jahrhundertlangen Gepflogenheiten des Handels mit Geschriebenem
auf dem Markt der Meinungen und Schilderungen, dadurch, dass dem
Schreibenden die Sorge um das Geschriebene abgenommen wurde,
bekam der Schreibende den Eindruck, sein Kunde oder Besteller, der
Mittelsmann gebe das Geschriebene an alle weiter. Er dachte: ich spreche,
und die hören wollen, hören mich. In Wirklichkeit sprach er; und die zahlen
konnten, hörten ihn. Sein Sprechen wurde nicht von allen gehört, und die
es hörten, wollten nicht alles hören. Darüber ist viel, wenn auch noch zu
wenig gesagt worden; ich will hier nur hervorheben, dass aus dem
"Jemandem schreiben" ein "schreiben" geworden ist. Die Wahrheit aber
kann man nicht eben schreiben; man muss sie durchaus jemandem
schreiben, der damit etwas anfangen kann. Die Erkenntnis der Wahrheit ist
ein den Schreibern und Lesern gemeinsamer Vorgang. Um Gutes zu sagen,
muss man gut hören können und Gutes hören. Die Wahrheit muss mit
Berechnung gesagt und mit Berechnung gehört werden. Und es ist für uns
Schreibende wichtig, wem wir sie sagen und wer sie uns sagt.
Wir müssen die Wahrheit über die schlimmen Zustände denen sagen, für
die die Zustände am schlimmsten sind, und wir müssen sie von ihnen erfahren.
Nicht nur die Leute einer bestimmten Gesinnung muss man ansprechen,
sondern die Leute, denen diese Gesinnung und Grund ihrer Lage anstünde.
Und eure Hörer verwandeln sich fortwährend! Sogar die Henker sind
sprechbar, wenn die Bezahlung für das Hängen nicht mehr einläuft oder
die Gefahr zu gross wird. Die bayrischen Bauern waren gegen jeden Umsturz,
aber als der Krieg lange genug gedauert hatte und die Söhne nach Hause
kamen und keinen Platz mehr auf den Höfen fanden, waren sie für den
Umsturz zu gewinnen.
Für die Schreibenden wichtig ist, dass sie den Ton der Wahrheit treffen.
Für gewöhnlich hört man da einen sehr sanften, wehleidigen Ton, den
von Leuten, die keiner Fliege weh tun können. Wer diesen Ton hört
und im Elend ist, wird elender. So sprechen Leute, die vielleicht keine
Feinde sind, aber bestimmt keine Mitkämpfer. Die Wahrheit ist etwas
Kriegerisches, sie bekämpft nicht nur die Unwahrheit, sondern bestimmte
Menschen, die sie verbreiten.
5. Die List, die Wahrheit unter vielen zu verbreiten
Viele, stolz darauf, dass sie den Mut zur Wahrheit haben, glücklich,
sie gefunden zu haben, müde vielleicht von der Arbeit, die es kostet,
sie in eine handhabbare Form zu bringen, ungeduldig wartend auf
das Zugreifen derer, deren Interessen sie verteidigen, halten es
nicht für nötig, nun auch noch besondere List bei der Verbreitung
der Wahrheit anzuwenden. So kommen sie oft um die ganze Wirkung
ihrer Arbeit. Zu allen Zeiten wurde zur Verbreitung der Wahrheit,
wenn sie unterdrückt und verhüllt wurde, List angewandt. Konfutse
fälschte einen alten patriotischen Geschichtskalender. Er veränderte
nur gewisse Wörter. Wenn es hiess "Der Herrscher von Kun liess den
Philosophen Wan töten, weil er das und das gesagt hatte" setzte
KONFUTSE statt töten "ermorden". Hiess es, der Tyrann so und so
sei durch ein Attentat umgekommen, setzte er "hingerichtet worden".
Dadurch brach KONFUTSE einer neuen Beurteilung der Geschichte
Bahn.
Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz
sagt unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule
Mystik. Das Wort Volk besagt eine gewisse Einheitlichkeit und deutet
auf gemeinsame Interessen hin, sollte also nur benutzt werden, wenn
von mehreren Völkern die Rede ist, da höchstens dann eine
Gemeinsamkeit der Interessen vorstellbar ist. Die Bevölkerung eines
Landstriches hat verschiedene, auch einander entgegengesetzte
Interessen, und dies ist eine Wahrheit, die unterdrückt wird. So
unterstützt auch, der Boden sagt und die Aecker den Nasen und
Augen schildert, indem er von ihrem Erdgeruch und von ihrer Farbe
spricht, die Lügen der Herrschenden; denn nicht auf die Fruchtbarkeit
des Bodens kommt es an, noch auf die Liebe des Menschen zu ihm,
noch auf den Fleiss, sondern hauptsächlich auf den Getreidepreis
und den Preis der Arbeit.
Diejenigen, welche die Gewinne aus dem Boden ziehen, sind nicht
jene, die aus ihm Getreide ziehen und der Schollengeruch des Bodens
ist den Börsen unbekannt. Sie riechen nach anderem. Dagegen ist
Landbesitz das richtige Wort; damit kann man weniger betrügen.
Für das Wort Disziplin sollte man, wo Unterdrückung herrscht, das
Wort Gehorsam wählen, weil Disziplin auch ohne Herrscher möglich
ist und dadurch etwas Edleres an sich hat als Gehorsam. Und besser
als das Wort Ehre ist das Wort Menschenwürde. Dabei verschwindet
der einzelne nicht so leicht aus dem Gesichtsfeld. Weiss man doch,
was für ein Gesindel sich herandrängt, die Ehre eines Volkes verteidigen
zu dürfen! Und wie verschwenderisch verteilen die Satten Ehre an die
welche sie sättigen, selber hungernd. Die List des KONFUTSE ist
auch heute noch verwendbar. KONFUTSE ersetzte ungerechtfertige
Beurteilungen nationaler, Vorgänge durch gerechtfertigte. Der
Engländer THOMAS MORUS beschrieb in einer Utopie ein Land, in
dem gerechte Zustände herrschten - es war ein sehr anderes Land, als
das Land, in dem er lebte, aber es glich ihm sehr, bis auf die Zustände!
LENIN, von der Polizei des Zaren bedroht, wollte die Ausbeutung und
Unterdrückung der Insel Sachalin durch die russische Bourgeoisie schildern.
Er setzte Japan statt Russland und Korea statt Sachalin. Die Methoden
der japanischen Bourgeoisie erinnerten alle Leser an die der russischen in
Sachalin, aber die Schrift wurde nicht verboten, da Japan mit Russland
verfeindet war. Vieles was in Deutschland über Deutschland nicht
gesagt werden darf, darf über Oesterreich gesagt werden.
Es gibt vielerlei Listen, durch die man den argwöhnischen Staat täuschen kann.
VOLTAIRE bekämpfte den Wunderglauben der Kirche, indem er ein
galantes Gedicht über die Jungfrau von Orleans schrieb. Er beschrieb
die Wunder, die zweifellos geschehen sein mussten, damit JOHANNA
in einer Armee und an einem Hof und unter Mönchen eine Jungfrau blieb.
Durch die Eleganz seines Stils und indem er erotische Abenteuer schilderte,
die aus dem üppigen Leben der Herrschenden stammen, verlockte er diese,
eine Religion preiszugeben, die ihnen die Mittel für dieses lockere Leben
verschaffte. Ja, er schuf so die Möglichkeit, dass seine Arbeiten auf
ungesetzlichen Wegen an die gelangten, für die sie bestimmt waren.
Die Mächtigen seiner Leser förderten oder duldeten die Verbreitung.
Sie gaben so die Polizei preis, die ihnen ihre Vergnügungen verteidigte.
Und der grosse LUKREZ betont ausdrücklich, dass er sich für die Verbreitung
des epikuräischen Atheismus viel von der Schönheit seiner Verse verspreche.
Tatsächlich kann ein hohes literarisches Niveau einer Aussage als Schutz
dienen. Oft allerdings erweckt es auch Verdacht. Dann kann es sich darum
handeln, dass man es absichtlich herabschraubt. Das geschieht z.B., wenn
man in der verachteten Form des Kriminalromans an unauffälligen Stellen
Schilderungen übler Zustände einschmuggelt. Solche Schilderungen würden
einen Kriminalroman durchaus rechtfertigen. Der grosse SHAKESPEARE hat
aus viel geringeren Erwägungen heraus das Niveau gesenkt, als er die Rede
der Mutter Koriolans, mit der sie dem gegen die Vaterstadt ziehenden Sohn
gegenübertritt, absichtlich kraftlos gestaltete er wollte, dass Koriolan nicht durch
wirkliche Gründe oder durch eine tiefe Bewegung von seinem Plan abgehalten
werden sollte, sondern durch eine gewisse Trägheit, mit der er sich einer
alten Gewohnheit hingab.
Bei SHAKESPEARE finden wir auch ein Muster listig verbreiteter Wahrheit in
der Rede des ANTONIUS an der Leiche des CÄSAR. Unaufhörlich betont
er, das CÄSARs Mörder BRUTUS ein ehrenwerter Mann sei, aber er schildert
auch seine Tat und die Schilderung dieser Tat ist eindrucksvoller als die
ihres Urhebers; der Redner lässt sich so durch die Tatsachen selber besiegen;
er verleiht ihnen eine grössere Beredtsamkeit selber. JONATHAN SWIFT
schlug in einer Broschüre vor, man sollte, damit das Land zu Wohlstand
gelange, die Kinder der Armen einpökeln und als Fleisch verkaufen. Er stellte
genaue Berechnungen auf, die bewiesen, dass man viel einsparen kann,
wenn man vor nichts zurückschreckt.
SWIFT stellte sich dumm. Er verteidigte eine bestimmte, ihm verhasste
Denkungsart mit vielem Feuer und vieler Gründlichkeit in einer Frage, wo
ihre ganze Gemeinheit jedermann erkennbar zu Tage trat. Jedermann konnte
klüger sein als SWIFT oder wenigstens humaner, besonders der, welcher
bisher gewisse Anschauungen nicht auf die Folgerungen untersucht hatte,
die sich aus ihnen ergaben.
Die Propaganda für das Denken, auf welchem Gebiet immer sie erfolgt, ist
der Sache der Unterdrückten nützlich. Eine solche Propaganda ist seht
nötig. Das Denken gilt unter Regierungen, die der Ausbeutung dienen, als niedrig.
Als niedrig gilt, was für die Niedergehaltenen nützlich ist. Niedrig gilt die
ständige Sorge um das Sattwerden; das Verschmähen der Ehren, welche
den Verteidigern des Landes, in dem sie hungern, in Aussicht gestellt
werden; der Zweifel am Führer, wenn er ins Unglück führt; der Widerwille
gegen die Arbeit, die ihren Mann nicht nährt; das Aufbegehren gegen den
Zwang zu sinnlosem Verhalten; die Gleichgültigkeit gegen die Familie, der das
Interesse nichts mehr nützte. Die Hungernden werden beschimpft als Verfressene,
die nichts zu verteidigen haben als Feiglinge, die an ihrem Unterdrücker
zweifeln, als solche, die an ihrer eigenen Kraft zweifeln, die Lohn für ihre
Arbeit haben wollen, als Faulpelze usw. Unter solchen Regierungen gilt das
Denken ganz allgemein als niedrig und kommt in Verruf. Es wird nirgends
mehr gelehrt und, wo es auftritt, verfolgt.
Dennoch gibt es immer Gebiete, wo man ungestraft auf die Erfolge des Denkens
hinweisen kann; das sind diejenigen Gebiete, auf denen die Diktaturen das
Denken benötigen. So kann man zum Beispiel die Erfolge des Denkens auf
dem Gebiet der Kriegswissenschaft und Technik nachweisen. Auch das Strecken
der Wollvorräte durch Organisation und Erfindungen von Ersatzstoffen erfordert
Denken. Die Verschlechterung der Nahrungsmittel, die Ausbildung der
Jugendlichen für den Krieg, all das erfordert Denken: es kann beschrieben
werden. Das Lob des Krieges, des unbedachten Zweckes dieses Denkens,
kann listig vermieden werden; so kann das Denken, das aus der Frage kommt,
wie man am besten einen Krieg führt, zu der Frage führen, ob dieser Krieg
sinnvoll ist und bei der Frage verwendet werden, wie man einen sinnlosen
Krieg am besten vermeidet.
Diese Frage kann natürlich schwerlich öffentlich gestellt werden. Kann also
das Denken, das man propagiert hat, nicht verwertet, daß heisst eingreifend
gestaltet werden? Es kann.
Damit in einer Zeit wie der unsrigen die Unterdrückung, die der Ausbeutung
des einen (grösseren) Teils der Bevölkerung durch den (kleineren) anderen
Teil dient, möglich bleibt, bedarf es einer ganz bestimmten Grundhaltung der
Bevölkerung, die sich auf alle Gebiete erstrecken muss. Eine Entdeckung
auf dem Gebiet der Zoologie, wie die des Engländers DARWIN konnte der
Ausbeutung plötzlich gefährlich werden; dennoch kümmerte sich eine
Zeitlang nur die Kirche um sie, während die Polizei noch nichts merkte.
Die Forschungen der Physiker haben in den letzten Jahren zu Folgerungen
uf dem Gebiet der Logik geführt, die immerhin eine Reihe von Glaubenssätzen
die der Unterdrückung dienen, gefährlich werden konnten.
Der preussische Staatsphilosoph HEGEL beschäftigt mit schwierigen Untersuchungen
auf dem Gebiete der Logik, lieferte MARX und LENIN, den Klassikern der proletarischen
Revolution, Methoden von unschätzbarem Wert. Die Entwicklung der Wissenschaften
erfolgt im Zusammenhang aber ungleichmässig und der Staat ist ausserstande,
alles im Auge zu behalten. Die Vorkämpfer der Wahrheit können sich Kampfplätze
auswählen, die verhältnismässig unbeobachtet sind. Alles kommt darauf an, dass
ein richtiges Denken gelehrt wird, ein Denken, das alle Dinge und Vorgänge
nach ihrer vergänglichen und veränderbaren Seite fragt. Die Herrschenden haben
eine grosse Abneigung gegen starke Veränderungen. Sie möchten, dass alles
so bleibt, am liebsten tausend Jahre.
Am besten der Mond bleibe stehen und die Sonne liefe nicht weiter! Dann
bekäme keiner mehr Hunger und wollet zu Abend essen. Wenn sie geschossen
haben, soll der Gegner nicht mehr schiessen dürfen, ihr Schuss soll der letzte
gewesen sein. Eine Betrachtungsweise, die das Vergängliche besonders
hervorhebt, ist ein gutes Mittel, die Unterdrückten zu ermutigen... eh, dass in
jedem Ding und in jedem Zustand ein Widerspruch sich meldet und wächst,
ist etwas was den Siegern entgegengehalten werden muss. Eine solche
Betrachtungsweise (wie der Dialektik, der Lehre vom Fluss der Dinge) kann
bei der Untersuchung von Gegenständen eingeübt werden, welche den
Herrschenden eine Zeitlang entgehen. Man kann sie in der Biologie oder
Chemie anwenden. Aber auch bei der Schilderung der Schicksale einer
Familie kann sie eingeübt werden, ohne allzuviel Aufsehen zu erwecken.
Die Abhängigkeit jeden Dings von vielen andern; sich ständig ändernden,
ist ein den Diktaturen gefährlicher Gedanke, und er kann in vielerlei Arten
auftreten, ohne der Polizei eine Handhabe zu bieten.
Eine vollständige Schilderung aller Umstände und Prozesse, von denen ein
Mann betroffen wird, der einen Tabakladen aufmacht, kann ein harter
Schlag gegen die Diktatur sein. Jeder, der ein wenig nachdenkt, wird
finden warum. Die Regierungen, welche die Menschenmassen ins Elend
führen, müssen vermeiden, dass im Elend an die Regierung gedacht wird.
Sie reden viel vom Schicksal. Dieses, nicht sie, ist am Mangel schuld. Wer
nach der Ursache des Mangels forscht, wird verhaftet, bevor er auf die
Regierung stösst. Aber es ist möglich, im allgemeinen dem Gerede vom
Schicksal entgegenzutreten; man kann zeigen, dass dem Menschen
sein Schicksal von Menschen bereitet wird.
Dies kann wieder auf vielfache Art geschehen. Es kann zum Beispiel die
Geschichte eines Bauernhofes erzählt werden, etwa eines isländischen
Bauernhofes. Das ganze Dorf spricht davon, dass auf diesem Hof ein Fluch
liegt. Eine Bäuerin hat sich in den Brunnen gestürzt, ein Bauer hat sich
aufgehängt. Eines Tages findet eine Heirat statt, der Sohn des Bauern
verheiratet sich mit einem Mädchen, das einige Aecker mit in die Ehe
bringt. Der Fluch weicht vom Hof. Das Dorf ist sich in der Beurteilung
dieser glücklichen Wendung nicht einig. Die einen schreiben sie der
sonnigen Natur des jungen Bauern zu, die andern den Aeckern, die die
junge Bäuerin mitgebracht hat und die den Hof erst lebensfähig machen.
Aber selbst in einem Gedicht, das eine Landschaft schildert, kann etwas
erreicht werden, nämlich wenn der Natur die von Menschen geschaffenen
Dinge einverleibt werden.
Es ist List nötig, damit die Wahrheit verbreitet wird.
Zusammenfassung
Die grosse Wahrheit unseres Zeitalters (mit deren Erkenntnis noch
nicht gedient ist, ohne deren Erkenntnis aber keine andere Wahrheit
von Belang gefunden werden kann) ist es, dass unser Erdteil in Barbarei
versinkt, weil die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln
mit Gewalt festgehalten werden. Was nützt es da, etwas Mutiges
zu schreiben, aus dem hervorgeht, dass der Zustand, in den wir
versinken, ein barbarischer ist (was wahr ist), wenn nicht klar ist,
warum wir in diesen Zustand geraten? Wir müssen sagen, dass
gefoltert wird, weil die Eigentumsverhältnisse bleiben sollen. Freilich,
wenn wir dies sagen, verlieren wir viele Freunde, die gegen das
Foltern sind, weil sie glauben, die Eigentumsverhältnisse könnten
auch ohne Foltern aufrechterhalten bleiben (was unwahr ist).
Wir müssen die Wahrheit über die barbarischen Zustände in unserem
Land sagen, daß das getan werden kann, was sie zum Verschwinden
bringt, nämlich das, wodurch die Eigentumsverhältnisse geändert werden.
Wir müssen es ferner denen sagen, die unter den Eigentumsverhältnissen
am meisten leiden, an ihrer Abänderung das meiste Interesse haben,
den Arbeitern und denen, die wir ihnen als Bundesgenossen zuführen
können, weil sie eigentlich auch kein Eigentum an Produktionsmitteln
besitzen, wenn sie auch an den Gewinnen beteiligt sind.
Und wir müssen, fünftens, mit List vorgehen.
Und alle diese fünf Schwierigkeiten müssen wir zu ein- und derselben Zeit
lösen, denn wir können die Wahrheit über barbarische Zustände nicht
erforschen, ohne an die zu denken, welche darunter leiden und während
wir, immerfort jede Anwandlung von Feigheit abschüttelnd, die wahren
Zusammenhänge im Hinblick auf die suchen, die bereit sind, ihre Kenntnis
zu benützen, müssen wir auch noch daran denken, ihnen die Wahrheit
so zu reichen, dass sie eine Waffe in ihren Händen sein kann und zugleich
so listig, dass diese Ueberreichung nicht vom Feind entdeckt und verhindert
werden kann.
Soviel wird verlangt, wenn verlangt wird, der Schriftsteller soll die Wahrheit
schreiben.