Die »Kanzlerakte«: Ein Reich der Legenden?
Seit Jahren antworteten auf vielfache Anfragen das Bundespräsidialamt, das Bundeskanzleramt und das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung mit einem gleichlautenden, abgestimmten Text. Hier ein Beispiel:
»Der geheime Staatsvertrag ist dem Reich der Legenden zuzuordnen. Diesen Staatsvertrag gibt es nicht. Und die Bundeskanzlerin mußte selbstverständlich auch nicht auf Anordnung der Alliierten eine sogenannte „Kanzlerakte“ unterschreiben, bevor sie ihren Amtseid ablegte. Die erbetene kurze Antwort lautet daher: Nein.
Mit freundlichen Grüßen, im Auftrag gez. Prof. Dr. Stefan Pieper, Referat Verfassung und Recht beim Bundespräsidialamt, Berlin, 29. Januar 2008«.
Eine unbestrittene Tatsache ist aber, daß Wahlsieger bis zu Gerhard Schröder 1998 mit seinem vorgesehenen Vize »Joschka« Fischer noch vor statt nach ihrer Ernennung und vor ihrem Amtseid nach Washington reisten, um sich vorzustellen, ohne daß man erfuhr, ob und was verabredet oder unterschrieben wurde. Einen Hinweis auf sein Geheimwissen gab lediglich der vormals als Straßenkämpfer bekannt gewordene Herr Fischer:
»Wenn die Mehrheiten sich verändern, mag es eine andere Koalition geben. Aber es wird keine andere Politik geben. Dazu steht zuviel auf dem Spiel. Das wissen alle Beteiligten«.
Jetzt endlich enthüllte ein von 1966 bis 1990 maßgeblicher Politiker sein Wissen über ein Staatsgeheimnis.
Egon Bahr plauderte in der Wochenzeitung »Die Zeit« (14.5.2009) aus dem Nähkästchen (Auszüge):
»Drei Briefe und ein Staatsgeheimnis«
Unter dieser Überschrift und dem Aufmacher »Herbst 1969: Bundeskanzler Willy Brandt wird ein Schreiben vorgelegt. Erst weigert er sich, es zu unterzeichnen – dann tut er es doch« erzählt der langjährige führende SPD-Politiker u.a.:
»Es war an einem der ersten Abende im Palais Schaumburg, nachdem Willy Brandt dort eingezogen war. (...) Ich brachte Brandt meinen Entwurf für einen Brief an seinen sowjetischen Kollegen Kossygin (...). Brandt war wichtiger, zu berichten, was ihm „heute passiert“ war. Ein hoher Beamter hatte ihm drei Briefe zur Unterschrift vorgelegt. Jeweils an die Botschafter der drei Mächte – der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Großbritanniens – in ihrer Eigenschaft als Hohe Kommissare gerichtet.
Damit sollte er zustimmend bestätigen, was die Militärgouverneure in ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 an verbindlichen Vorbehalten gemacht hatten. Als Inhaber der unkündbaren Siegerrechte für Deutschland als Ganzes und Berlin hatten sie diejenigen Artikel des Grundgesetzes suspendiert, also außer Kraft gesetzt, die sie als Einschränkung ihrer Verfügungshoheit verstanden. Das galt sogar für den Artikel 146, der nach der deutschen Einheit eine Verfassung anstelle des Grundgesetzes vorsah. Artikel 23 zählte die Länder auf, in denen das Grundgesetz „zunächst“ gelten sollte, bis es in anderen Teilen Deutschlands „nach deren Beitritt“ in Kraft zu setzen sei. Diese Vorwegnahme der Realität im Jahre 1990 konnten die Drei 1949 weder genehmigen noch ahnen. (...)«
Brandt zwischen Amtseid und Unterwerfung
Egon Bahr weiter: »Brandt war empört, daß man von ihm verlangte, „einen solchen Unterwerfungsbrief“ zu unterschreiben. Schließlich sei er zum Bundeskanzler gewählt und seinem Amtseid verpflichtet. Die Botschafter könnten ihn wohl kaum absetzen! Da mußte er sich belehren lassen, daß Konrad Adenauer diese Briefe unterschrieben hatte und danach Ludwig Erhard und danach Kurt Georg Kiesinger.
Daß aus den Militärgouverneuren inzwischen Hohe Kommissare geworden waren und nach dem sogenannten Deutschlandvertrag nebst Beitritt zur NATO 1955 die deutsche Souveränität verkündet worden war, änderte daran nichts. Er schloß: „Also habe ich auch unterschrieben“ – und hat nie wieder davon gesprochen.
Schon Adenauer hatte seine Anerkennung der alliierten Oberhoheit wie ein Staatsgeheimnis behandelt. Sie paßte nicht so recht in die Atmosphäre zehn Tage vor der Staatsgründung, und die drei Mächte hatten auch kein Interesse, diese Voraussetzung für den 23. Mai 1949 an die große Glocke zu hängen. Das blieb kein Einzelfall.(...) Die Sieger pochten auf ihre unkündbaren Kompetenzen während dieser ganzen Zeitspanne, natürlich nicht nur vor der Geburtsstunde der Bundesrepublik, sondern auch, als sie 1955 zu Verbündeten wurden. Als ich die Kanzlerbriefe einmal gegenüber dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker erwähnte, reagierte er zu meiner Überraschung erstaunt; er hatte von ihnen nichts gewußt. (...)«
Bevor Sie zur Wahl gehen, liebe Leser, sollten Sie die Kandidaten aller Parteien fragen, ob sie sicher seien, daß sie frei und ohne Vorbehalte der Alliierten für das Wohl des deutschen Volkes eintreten können!
http://www.fk-un.de/UN-Nachrichten/U.../2009-06-4.htm