Auf der Suche nach den magischen Pilzen
Ist der Jura tatsächlich das Paradies für Rauschpilz-Sammler?
Von Paul Imhof
Vermutlich hat der Vollmond in der Nacht zuvor die Pilze weggebrannt. Die Landschaft ist leer. Kein Mensch, kein Pilz. Nach heftiger Anstrengung entdecken wir unter dunkelgrünen Wettertannen wenigstens ein paar zertrampelte Pilze. Den Hexenring, auf den wir unverhofft stossen, verstehen wir als Zeichen, das uns an die Aussichtslosigkeit erinnert, an diesem trüben Samstag Pilze und ihre Jäger zu finden.
Denn eigentlich müssten jetzt Hunderte Städter über die Weiden der Jurahöhen streifen, bedächtigen Schrittes, die Köpfe nach unten gesenkt, die Augen auf das herbstliche Gras gerichtet, die zartstieligen Schätze im Visier. Zauberpilze. Magic mushrooms der Gattung Psilocybe. Genau besehen, handelt es sich hier um den Spitzkegeligen Kahlkopf, Psilocybe semilanceata, und der ist nicht in jedem Führer aufgelistet.
Ragout ja, Rausch nein
Dieser Pilz ist ein juristisches Problem, weil sich die Gesetzgebung uneins ist, ob die Psilocybinpilze unter das Betäubungs- oder das Lebensmittelgesetz fallen. In ihrer Ausbildung lernen die Pilzkontrolleure, dass er giftig ist. Der Verzehr der Pilze aber ist nicht verboten. Es ist auch nicht verboten, Knollenblätterpilze zu essen - bloss dumm, weil sie giftig sind.
Ob es dumm ist, Zauberpilze zu schlucken, ist umstritten. Die einen schätzen seine psychedelische Wirkung, die andern bezeichnen diese als gefährlich. Die Wirkstoffe Psilocybin und Psilocin initiieren einen LSD-ähnlichen Zustand. Trocken enthält ein Pilz im Durchschnitt 1 Prozent Psilocybin, ist also fast hundertmal schwächer als LSD. Deshalb kauen Pilzfreunde eine Hand voll, doch in der Unberechenbarkeit der Dosis liegt auch eine Gefahr. Und weil der Konsum von Psilocybin verboten ist, steckt man in der Zwickmühle: Ragout ja, Rausch nein.
Die Kahlköpfe sind Jahr für Jahr ein Thema wie der Weihnachtseinkauf. Seit Jahrhunderten werden die Rauschpilze von schamanistischen Kreisen rituell genossen. Von Leuten, die sich mit den Pilzarten und den psychedelischen Substanzen auskennen. Seit den Sechzigerjahren freilich figurieren die Zauberpilze auch auf den Menüplänen von Naturfreunden, die sich gerne zudröhnen, aber auf synthetische Kicks verzichten möchten und den ökologisch reinen Bio-Trip vorziehen.
Aber offenbar haben sie es nicht mehr nötig, selber auf die Suche zu gehen. Wir halten Ausschau am Etang de Gruère, spähen über die Weiten der Freiberge, fahren weiter durch La Chaux-de-Fonds und Le Locle, die Gegend von La Brévine und durchs Val de Travers, vorbei am Lac de Joux nach Frankreich und enden schliesslich in Genf. Nichts. Kein Mensch in den Pilzen. Zumindest nicht auf den Weiden. Wir wundern uns ziemlich. Noch vor wenigen Jahren haben die Bauern die Hunde auf die Sammlerhorden gehetzt. Der Koch einer ehemaligen Genossenschaftsbeiz im Südjura hat von Polizeieinsätzen auf Weiden berichtet, weil jugendliche Sammler die Pilze nach dem Pflücken gleich verschluckt haben und unter archaischem Gelächter durch die Landschaft getanzt sind.
Zauberpilze für Hobbygärtner
Die Konsumenten haben es heute gar nicht mehr nötig, die Pilze selber zu suchen. Die Befürchtung, dass die Kahlköpfe dereinst aussterben, weil sie in rauen Mengen aus dem Boden gerissen werden, scheint obsolet zu sein. Der Verlust an freier Landschaft und zu viel Stickstoff im Boden durch Überdüngung gefährden die Pilzbestände ohnehin stärker als hemmungsloses Ernten. Ausserdem lassen sich die Pilze heute einfacher beschaffen. Gewisse Arten kann man im eigenen Garten oder auf dem Balkon züchten, etwa Psilocybe azurescens, eine amerikanische Art.
Psilocybinpilze wachsen nicht wie Steinpilze oder Eierschwämme symbiotisch mit einer lebenden Pflanze, sondern auf verrottendem Material. Man kauft eine Mycelkultur, mischt sie unter ein Häufchen Holzhäcksel, sorgt für regelmässige Feuchtigkeit und Wärme und wartet auf das Resultat.
Wir reisen wieder zurück, am Jurasüdfuss entlang, ohne nach Pilzsuchern Ausschau zu halten. Die nebelverhangenen Kreten und Täler überlassen wir Wald- und Wiesengeistern. Denn nun wissen wir auch, warum wir durchs Leere gestreunt sind: Der beste Tag zum Pilzesuchen ist der Donnerstag.
Passende Literatur im Nachtschatten- und AT-Verlag.
BILD JACQUES BÉLAT
Mystische Landschaft im Jura: Die Zauberpilze gedeihen, wenn Boden, Klima und Höhe stimmen.